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Wenn bei Frühlingsbeginn alles nach draußen drängt, spüre ich am deutlichsten, wie eingeschränkt meine Mobilität trotz Langstock manchmal ist.

Wenn mein Langstock zum Wanderstab wird

2009

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Man muss Sonne und Helligkeit nicht unbedingt sehen können, um während der kalten und dunklen Jahreszeit unter deren Entzug zu leiden. Wenn die Tage länger werden und die Sonne an Kraft gewinnt, alles nach feuchter Erde und sprießendem Grün duftet und die Vögel singen, dann treibt es wohl jeden hinaus - auch mich mit meinem Langstock.

Frühjahrsputz auf den Straßen

Die milden Temperaturen wecken nicht nur meine Lebensgeister, sie haben auch die letzten Schneereste geschmolzen und die Magistratsabteilung 48 (Müllabfuhr) hat den lästigen Rollsplitt entfernt und ihn sorgfältig gesäubert, um für den nächsten Schneefall gerüstet zu sein - hoffentlich nicht gerade zu Ostern.

Auch Mutter Natur hat ihren Putztrupp ausgesandt: Der erste heftige Regenguss hat die Straßen rein gewaschen und die wärmenden Sonnenstrahlen hinterher die Pfützen aufgetrocknet.

Diese Säuberung ist für mich und meinen Langstock ähnlich befreiend wie die Reinigung einer hoffnungslos verschmutzten Brille. Mein Langstock und ich können wieder "sehen", was bisher unter Schnee und Streusand verborgen war. Und die lästigen Schneestangen als Warnung vor Dachlawinen sind - höchst erfreulich - ebenfalls verschwunden.

Da ist er ja wieder, der Kanaldeckel, den ich während der letzten Monate so schmerzlich vermisst habe, ist er doch für mich eine Art Stoppschild, das mir anzeigt: Mach langsam! Nach ein paar Metern befindet sich rechts der Eingang zum Supermarkt.

Ähnlich ergeht es mir mit Dehnfugen am Gehweg, uralten Frostaufbrüchen (von denen ich übrigens hoffe, dass sie nicht so schnell ausgebessert werden) und den vielen kleinen Bodenunebenheiten, über die man nicht nur stolpern, sondern sie auch gut als Orientierungshilfen nutzen kann.

Platz für neue Barrieren

Gemeinsam mit den vertrauten Orientierungshilfen wachsen aber auch wieder neue Hindernisse und Barrieren wie die berühmten Pilze aus dem Boden: Der Gemüsehändler räumt sein Angebot nach draußen und vor dem Lokal, an dem ich häufig vorbeikomme, wird auch bald wieder der Schanigarten den ohnehin engen Gehweg verschmälern. Einmal mehr wird mir bewusst, dass es für mich die optimale Konstellation für eine zielsichere und gleichzeitig rasche Fortbewegung nicht zu geben scheint.

Die Welt wird lauter

Vielleicht liegt es ja an den Singvögeln, die mein Ohr für Gesang und Klang empfänglicher machen, vielleicht auch an dem neuen Schwung, den die erwachende Natur uns vorlebt: Mir ist jedenfalls, als könnte ich im Frühling besser hören als sonst. Ob es nun die Schritte der Menschen auf dem Gehweg oder der Straße sind, das Vorbeizischen eines Inline-Skaters - alle Geräusche wirken so nah, fast zu nah, beinahe aufdringlich.

Inmitten des fröhlichen, bunten Treibens

Aber ich höre nicht nur besser - es gibt auch viel mehr zu hören: Kinder überholen mich lärmend und für einen Moment kann ich nichts mehr wahrnehmen als das Rattern des Skateboards. Und als es wieder ruhiger wird, muss ich mein Tempo abrupt verlangsamen, denn vor mir steht plötzlich eine Gruppe von Menschen, vertieft in irgendeine Debatte. Aber so lange die Leute laut genug reden, kann ich sie wenigstens gefahrlos umrunden. Unglücklicherweise bleibt mein Langstock dabei in etwas hängen, das sich schließlich als ein verwaister Buggy entpuppt. Erst jetzt wird man auf mich aufmerksam und eine freundliche Dame lotst mich durch die Engstelle.

Von weitem höre ich das Tack-Tack der akustischen Verkehrsampel und steuere zielsicher darauf zu, denn dieser Ton zieht mich magisch an. Und ebenso zielsicher stolpere ich über das unmittelbar davor abgestellte Dreirad. Kein Zweifel: Die Stadt lebt wieder!

Sieben Tage Regenwetter

Der Frühling ist nun mal ein launischer Geselle und nach den ersten warmen Tagen folgt der unvermeidliche Kälteeinbruch mit heftigem Regen und Wind. Mit eingezogenem Kopf, verkrampften Schultern und fröstelnd bahne ich mir meinen Weg zur Straßenbahnstation. Der Wind heult mir um die Ohren, die Autos auf der Straße machen ein Geräusch, als führen sie durch einen kleinen See. Vorbei sind Hörvergnügen und auch die fröhliche Laune der Menschen inklusive meiner eigenen. Konzentriert und keineswegs in gehobener Stimmung mache ich Bekanntschaft mit einem Regenschirm, der unsanft gegen meine Schläfe stößt und eine ganze Fontäne eiskalten Wassers über mich entlädt. Sturzbäche fließen meinen Rücken herab - zumindest fühlt es sich so an, obwohl es vermutlich nur ein paar Tropfen sind. Wer mir jetzt begegnet, darf zu Recht sagen: "Du machst ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter".

Wahrnehmen und wahrgenommen werden

Abgesehen von etlichen heftigen Stürmen und Regenschauern fällt mir im Frühling trotz vieler neuer Hindernisse die Orientierung deutlich leichter als im Winter. Das liegt sicher zu einem Großteil auch daran, dass die Menschen jetzt offener und aufmerksamer sind. Sie gehen nicht mehr nur ihrer Wege, sie verweilen, beobachten - und helfen. Diese Jahreszeit scheint die Menschen nicht nur hinterm Ofen vorzulocken, sondern auch aus sich selbst heraus. Da fragt jemand ganz ungezwungen: "Gehen Sie auch zur U-Bahn?" oder der Fahrer einer Straßenbahn teilt mir das Liniensignal mit, ohne dass ich erst danach fragen muss.

Diese kleinen Hilfestellungen erleichtern mir tagein, tagaus oft genug das Leben, helfen mir Zeit sparen und bewahren mich nicht selten auch vor unangenehmen Begegnungen mit Hindernissen.

Auf diese Art habe ich auch schon so manchen netten Menschen kennen gelernt.

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