Sie sind hier:

Alltag

Zur Navigation

Wenn die Witterung mein Hörvermögen beeinträchtigt, fühle ich mich zusätzlich behindert.

Orientierungslos im Kampf gegen die Elemente

2009

Zu den (0) Kommentaren

Wenn die Tage kürzer werden und die Sonnenstrahlen nach und nach ihre Kraft verlieren, bin ich stark versucht mein Gehtempo zu steigern. Nein, ich will mich nicht warm laufen, sondern ich genieße die endlich wieder frei werdenden Gehwege. Kleiderständer, Gemüse- und Obstkisten und die beengenden Schanigärten verschwinden langsam. Auch die im Sommer so zahlreichen plaudernden Personengruppen von der Oma bis zum unbeaufsichtigten Kleinkind mit oder ohne Dreirad und dem vierbeinigen Gefährten, per Leine mit dem Frauchen verbunden, verstopfen nun seltener meinen Weg. Ich komme plötzlich mit meinem Langstock nahezu ungehindert voran.

Aber noch während ich die neu gewonnene Bewegungsfreiheit genieße, kann ich nicht umhin, auch an die Besonderheiten dieser Jahreszeit zu denken. Sie sind so vielfältig wie tückisch und reichen von optimalen Orientierungs-Bedingungen nahezu bis zur Hilflosigkeit, wenn ich mich den Elementen der Natur ziemlich ausgeliefert fühle.

Ein stürmischer Geselle

Es dauert nicht lange und die ersten Herbststürme brausen durch die Straßen. Ich bin kaum um die Hausecke gebogen, da springt mich eine Bö an wie ein übermütiger Hund. Spitzen bis zu 90 Stundenkilometer sind angesagt - keine Seltenheit in Wien.

Für mich sind das schwere Zeiten - ganz abgesehen davon, dass ich solches Wetter sowieso nicht leiden kann. Aber das Heulen des Sturms behindert mich zusätzlich. Es rauscht und dröhnt und ich kann nicht mehr hören, was ich doch hören sollte: Menschen, die mir entgegen kommen, Fahrräder, die meinen Gehweg queren - und natürlich die motorisierten Verkehrsteilnehmer auf der Straße. Oft genug stehe ich am Straßenrand und wage die Überquerung nicht aus Sorge, es könnte sich ein Auto mit rascher Geschwindigkeit nähern, dem ich gerade vor den Kühler laufe.

Akustische Verkehrsampeln sind in solchen Situationen ein wahrer Segen. Außerdem haben alle neuen Modelle vibrierende Pfeile bei Grünlicht, sodass ich auch bei schlechtesten Hörbedingungen noch sicher die Straße queren kann. Denn ich möchte nicht nur selbst sicher ans andere Ufer gelangen; ich mag auch keinen Autofahrer einen Schrecken einjagen oder ihn in seiner Fahrt behindern.

Nicht links noch rechts - nur voran

Sturm und Regen haben aber noch weitere Nachteile: Die Menschen sind verständlicherweise bemüht, so rasch wie möglich wieder ins Trockene zu kommen. Wenn sie daher eine anrollende Straßenbahn oder einen Bus entdecken, dann stürmen sie los - und übersehen mich gelegentlich. Die ungewollte Kollision mit einer Schirmspitze kann ziemlich schmerzhaft sein.

Auch passiert es schon mal, dass ich bei Straßenbahn oder Autobus nach einem Druckknopf suche, um die Türe zu öffnen, aber ich bin zu langsam und die Straßenbahn fährt ohne mich ab.

Bei Schönwetter findet sich immer wieder jemand, der mir die Türe öffnet - sei es nun von innen oder außen -, bei Schlechtwetter scheint jeder mit sich selbst beschäftigt und froh, den Elementen endlich entkommen zu sein.

Auch Zusammenstöße mit vereinzelten Passanten kommen häufiger vor als in der warmen Jahreszeit, weil das Blickfeld unter dem Regenschirm naturgemäß eingeengt ist. Ich scheine offenbar ziemlich treffsicher zu sein, wenn es darum geht, genau jenen Weg zu wählen, den auch andere gehen wollen.

Der Schleier über meinen Ohren

Und dann kommen diese stillen Herbsttage, an denen ich das Gefühl habe, die ganze Welt sei in Watte gepackt. Alle Geräusche wirken, als wären sie mit einem Tuch verhüllt oder als hätte ich eine Mütze über den Ohren, die sich nicht abnehmen lässt.

Während im Winter frisch gefallener Schnee die Geräusche von Menschen und Fahrzeugen dämpft, scheinen die Herbstnebel nicht nur einen visuellen, sondern auch einen akustischen Schleier über alles zu breiten. Die hohe Luftfeuchtigkeit trübt keineswegs nur die Sicht, sie reduziert auch die "Hellhörigkeit" meiner Ohren.

Diese ungewöhnliche Stille ist äußerst trügerisch. Menschen tauchen plötzlich auf, ohne dass ich vorher Schritte gehört hätte; Motorengeräusche sind gedämpft und wirken weiter entfernt, als sie tatsächlich sind. Da verschätzt man sich schon einmal, was Entfernung und Geschwindigkeit eines Fahrzeugs anlangt.

Besonders beunruhigend ist, dass nicht nur ich nicht sehen kann, sondern ich bei solchen Bedingungen auch von anderen Verkehrsteilnehmern gar nicht oder nur sehr spät gesehen werde.

Im Vertrauen auf andere

Witterungsverhältnisse bringen mich gerade im Herbst immer wieder in eine Lage, in der ich die Verkehrssituation nicht mehr ausreichend beurteilen kann, weil meine Möglichkeiten, das Gehör zur Orientierung einzusetzen, stark reduziert werden.

Dann ist es beruhigend zu wissen, dass es in der Straßenverkehrsordnung den Vertrauensgrundsatz gibt, der besagt, dass man auf Personen Rücksicht nehmen soll, bei denen offensichtlich und erkennbar ist, dass sie Gefahren nicht realistisch einschätzen können. Noch beruhigender ist, dass sich vor allem motorisierte Verkehrsteilnehmer auch an diesen Grundsatz halten.

Wenn ich selbst aufgrund der Umstände Umweltbedingungen nicht oder nur eingeschränkt wahrnehmen kann, dann ist es sehr beruhigend zu wissen, dass man auch einmal auf die Umsichtigkeit anderer vertrauen darf.

Zurück

Weiter

zur Übersicht "Alltag"

Zu diesem Artikel gibt es leider noch keine Kommentare.

Einen Kommentar zu diesem Artikel schreiben:

Ich behalte mir vor, Einträge wider die guten Sitten oder den guten Geschmack zu entfernen, möchte meine Leser jedoch ausdrücklich zu themenbezogenen Kommentaren oder Fragen ermutigen.