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Nicht überall, wo ein Wille ist, ist auch ein gangbarer Weg.

Ein Langstock ist eben keine Schneeschaufel

2009

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Es ist wieder einmal so weit. Die ganze Nacht hat es heftig geschneit und gegen 4 Uhr reißt mich das Geräusch des Schneepflugs aus dem Schlaf. Ich drehe mich auf die andere Seite - dankbar für den Aufschub dieser neuen Herausforderung an meine Orientierungsfähigkeit.

Drei Stunden später öffne ich die Haustür und halte kurz inne, atme die kühle Luft ein und hebe das Gesicht den noch immer dicht fallenden Schneeflocken entgegen. Es ist still in unserem Innenhof, kein Lüftchen regt sich, und der fallende Schnee verursacht auf meiner Jacke und den kahlen Bäumen ein leises Knistern. Eine solche Stimmung ist in der Großstadt selten und ich zögere meinen Start in den Alltag noch etwas hinaus.

Veränderte Geräuschkulisse

Langsam trete ich in den Hof, der wohl geräumt ist, auf dem inzwischen aber wieder eine dünne Schneedecke liegt, die das Geräusch meiner Schritte vollkommen verschluckt. Einmal mehr staune ich, wie sehr Schnee die Landschaft verändert - nicht nur fürs Auge, auch fürs Ohr. Durch die gedämpften Geräusche wirkt der Hof plötzlich viel größer und irgendwie leerer.

Mit raschen Schritten strebe ich der Einfahrt zu, verlangsame jedoch abrupt mein Gehtempo, als ich den Bürgersteig erreiche. Wenn ich meine eigenen Schritte kaum hören kann, dann höre ich natürlich auch die Schritte anderer nicht.

Verschwundene Orientierungshilfen

Die sonst mit dem Stock deutlich fühlbaren Bodenveränderungen wie Wiesenränder, Fugen im Beton und natürlich auch die Leitlinien und Bodenmarkierungen, sind jetzt nicht oder nur schwer auffindbar und Gehsteigabsenkungen nicht fühlbar.

Als ich die Straße überqueren will, suche ich vergeblich nach einer Furt in dem vom Schneepflug aufgeschütteten und mehr als kniehohen Wall. Mein Stock wühlt im lockeren Neuschnee, aber ich verspüre wenig Lust durch den Schnee zu waten, zumal ich ja nicht einmal weiß, ob ich mich tatsächlich beim Übergang befinde. Denn die Dehnfuge bei der Einfahrt zum Parkplatz ist jetzt ebenso von Schnee bedeckt wie die Änderung des Bodenbelags beim Übergang.

Schließlich bemerkt eine freundliche Passantin mein Dilemma und bringt mich zu dem schmalen Trampelpfad, den andere Frühaufsteher in den vom Schneepflug aufgeschütteten Schneewall getreten haben. Den hätte ich alleine nie und nimmer gefunden.

Wie Watte in den Ohren

Beim Überqueren der Straße benötige ich meine ganze Konzentration, denn das sonst so deutlich vernehmbare Geräusch der Autoreifen auf Asphalt wird vom Schnee gedämpft und ich kann ein herannahendes Fahrzeug erst im letzten Moment hören. Es ist, als wäre ein akustischer Nebel über alles gebreitet, aus dem die Fahrzeuge wie materialisierte Visionen scheinbar plötzlich auftauchen.

Rollende Räder auf Asphalt oder Beton verursachen normalerweise ein deutlich und weithin hörbares Geräusch, aus dem man auf Entfernung, ja unter günstigen Bedingungen sogar die ungefähre Geschwindigkeit eines Fahrzeuges schließen kann. Jetzt verschluckt die weiße Pracht nahezu jedes Geräusch - und damit auch das der Motoren und Räder.

Ich habe die Straße glücklich überquert und darf mich auf der nun folgenden Fahrt mit Straßen- und U-Bahn entspannen.

Unsanfte Begegnung

Das letzte Stück meines Weges sollte nicht allzu schwierig werden, denn ich kann an der Häuserfront entlang gehen. Auch hier ist der Gehweg geräumt und nahe der Hauswand beginnt der Schnee schon zu schmelzen. Jetzt fühle ich mich einigermaßen sicher und schreite rascher aus.

Das erste Stück komme ich auch gut voran, finde sogar einen frei geschaufelten Überweg und überquere die Straße. Auf der gegenüberliegenden Seite wate ich allerdings durch den Schnee. Mich beschleicht das Gefühl, dass möglicherweise einen halben Meter neben mir ein Pfad freigeschaufelt ist, aber das Motorengeräusch eines näher kommenden Autos hindert mich daran, danach zu suchen.

Als ich meinen Weg fortsetze, trifft mein Stock plötzlich gegen ein Hindernis. Polternd fällt etwas zu Boden und streift mich im Fallen am Arm. Ich bin gegen eine dieser Schneestangen (oder Dachlatten, wie sie behördlich heißen) gelaufen, die Passanten vor Dachlawinen schützen sollen.

Ich überlege kurz, ob ich die Dachlatte wieder aufheben und an die Wand lehnen soll, entscheide mich aber dagegen und schiebe sie stattdessen mit dem Fuß eng an die Wand.

Es ist keineswegs Bequemlichkeit, die mich so handeln lässt. Der nächste Passant, der gegen die Latte stößt und sie umwirft, bekommt sie vielleicht auf den Kopf oder - genauso schlimm - es wird ein anderer Passant, vielleicht ein Kind, von der niederstürzenden Dachlatte getroffen.

Unfreiwillige Pfadfinder

Wenn Schnee in der Stadt liegt, werden sehbehinderte und blinde Fußgänger zu unfreiwilligen Pfadfindern. Wir vermissen die gewohnten Anhaltspunkte, die wir üblicherweise mit dem Stock ertasten können, erhalten wichtige akustische Informationen durch die nahezu jeden Laut verschluckende Schneedecke nicht rechtzeitig und verlieren oft genug die Orientierung, wenn wir den Schneemassen ausweichen und so die Gehrichtung ständig ändern müssen. Selbst gut bekannte Wege können bei solchen Bedingungen wie Neuland wirken.

Gerade in der Vorweihnachtszeit streiten daher oft zwei Seelen in mir: Ich liebe den Schnee, wenn mich jemand begleitet, und ich fühle mich gleichzeitig in meiner Eigenständigkeit und Mobilität eingeschränkt, wenn selbst gut bekannte Wege zur Expedition mit ungewissem Ausgang werden.

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