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Aussöhnung mit dem Mittelmaß

März 2010

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Worin bin ich wirklich gut?

Diese Frage habe ich mir oft gestellt und sehr früh die Antwort gefunden: In nichts. Ich bin einfach Mittelmaß, Durchschnitt. Vielleicht guter Durchschnitt - aber Durchschnitt bleibt eben Durchschnitt.

Diese Erkenntnis ist heute für mich weniger betrüblich, als es auf den ersten Blick scheinen mag, und sie hat nichts mit mangelndem Selbstwertgefühl zu tun. Ich habe zwar kein herausragendes musikalisches Talent, außergewöhnliche sportliche Erfolge aufzuweisen oder eine besondere Begabung für Sprachen, wie ich sie gerne hätte. Aber die Natur hat mich auch mit Vielseitigkeit, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit ausgestattet; vor allem aber mit Energie, einer unstillbaren Neugierde auf das Leben und einer selten gebremsten Lebensfreude.

Aber es war ein weiter Weg bis zu dieser Erkenntnis und es bedurfte, wie so oft im Leben, eines Schlüsselerlebnisses, um mich mit der Nase darauf zu stoßen, wie unterschiedlich Eigen- und Fremdwahrnehmung sein können.

Vor allem in jungen Jahren war die Erkenntnis, "nur Durchschnitt" zu sein, wenig befriedigend. Zufriedenheit ist nun mal keine Sache der Jugend - und die meine schon gar nicht! Im jährlichen Musikwettbewerb zu glänzen, den 60-Meter-Lauf zu gewinnen oder das tollste Faschingskostüm zu haben ... Einmal ganz vorne zu stehen, besonders beachtet, bewundert oder beneidet zu werden - das waren die Träume, die ich vermutlich mit allen Teenies gemeinsam hatte.

Ich fand wenig Gefallen an einem Leben ohne besondere Höhen und Tiefen, als "Mittelmaß" oder Durchschnitt, unauffällig, mit der anonymen Masse verschmolzen und gleichsam von ihr absorbiert. So empfand ich es lange, wenn auch, ohne deswegen unglücklich zu sein. Denn in meinem engsten Umfeld fühlte ich mich immer angenommen.

Und dann nahm ich an einem Programmierkurs für Visual Basic in der Nähe von Würzburg teil. Diesmal war ich nicht einmal Durchschnitt, sondern deutlich darunter. Allerdings fehlte mir zu diesem Thema auch der Ehrgeiz, mehr zu wollen als bloß reinzuschnuppern in eine Materie, mit der ich mich bis dahin kaum befasst hatte.

Darum ist auch vom Kurs nicht viel in meinem Gedächtnis haften geblieben, abgesehen von den sehr heiteren Abenden in gemütlicher Runde, während ich die Bahnfahrt von Würzburg nach Linz ganz sicher nie mehr vergessen werde.

Die Sicht von außen

Wir waren zu zweit, mein ehemaliger Schulkollege B. und ich. Er ist - wie könnte es sein - ganz und gar kein Mittelmaß, sondern ein überdurchschnittlich begabter Mathematiker und Informatiker, der sich während des gesamten Kurses sehr viel Mühe gegeben hatte, mich wenigstens an die Grundsätze der Programmiersprache heranzuführen.

Auf langen Bahnfahrten spricht man über alles Mögliche: über die Schulzeit, die Familie, Träume und Pläne - und auch über das, was einem das Leben offenbar schuldig geblieben ist; zum Beispiel eine besondere Begabung.

Und dann geriet mein Selbstbild völlig aus dem Gleichgewicht, als B. mir gestand, er hätte mich immer schon beneidet und wäre gerne wie ich. Als ich mich endlich fassen konnte und wissen wollte, was ein so begabter Mensch an mir so beneidenswert findet, erhielt ich eine erstaunliche Lektion und damit eine ganz neue Sicht auf mich selbst.

"Du weißt dir immer zu helfen", erklärte er mir, "weißt stets irgend einen Ausweg, kommst mit allem klar. Ich dagegen habe zwar eine Begabung, für die ich sehr dankbar bin, aber die mir in vielen Lebenslagen wenig hilft."

Ich gebe zu: So hatte ich das noch nie gesehen. Ich hatte B. ob seiner Begabung ein wenig beneidet und sehr bewundert. Und natürlich bewundere ich ihn noch immer. Mit seiner Darstellung eröffnete er mir aber eine völlig neue Perspektive auf Talent und Begabung.

Der Weg zu sich selbst ist eine Heimkehr

An diesem Tag habe ich gelernt, mehr als nur durchschnittlich dankbar für mein Mittelmaß zu sein. Ich habe verstanden, dass es nicht so wichtig ist, welche speziellen Fähigkeiten ich mitbekommen habe. Vielmehr kommt es darauf an, diese zu erkennen, weiter zu entwickeln und so einzusetzen, dass ich selbst und die Menschen, mit denen ich zu tun habe, möglichst viel davon profitieren.

Ich habe ganz unerwartet auf einer denkwürdigen Bahnfahrt eine Waage geschenkt bekommen, mit deren Hilfe ich nun leichter ein vernünftiges Mittelmaß zwischen der anerzogenen Devise, mich selbst nicht so wichtig zu nehmen, und einem ausgewogenen Selbstwertgefühl finden kann.

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