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Wie Behinderung zur Chance werden kann.

Kanthari — das Feuer aus dem Abseits

01.09.2016

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Klein, unscheinbar, aber feurig-scharf und medizinisch wertvoll ist diese wild wachsende Chili-Pflanze. kantharis (als Eigenname klein geschrieben) heißen aber auch die Absolventen der "Traumwerkstatt von Kerala" in Südindien, ein Institut für soziale Visionäre, das Sabrye Tenberken zusammen mit ihrem Partner Paul Kronenberg 2009 gegründet hat und dessen Ziele sie in dem gleichnamigen Buch beschreibt. Die Menschen, die aus der ganzen Welt dorthin kommen, sind blind, körperbehindert, verfolgt oder traumatisiert und stehen meist am Rande der Gesellschaft. Sie sind aber auch Visionäre, Aktivisten, Initiatoren und unangepasst, ausgestattet mit Widerstandskraft und einer konstruktiven Wut. Sie jammern nicht über ihr und das Unglück anderer, sondern wollen aktiv zu einer besseren Gesellschaft beitragen. Ein passenderes Symbol als die scharfe unscheinbare Frucht hätten die Institutsgründer für die Absolventen kaum finden können.

Anders und im Abseits

Sabrye ist neun und springt mit ihren Schlittschuhen auf den zugefrorenen See. Sie wundert sich, warum alle brav im Kreis fahren, wo sie doch sonst immer kreuz und quer über den See sausen. Also fährt sie wie üblich mitten durch — und bricht durch die dünne Eisdecke. Abgesehen von einem eiskalten Bad ist ihr nichts passiert. Aber von nun an weiß sie, dass sie ihren Augen nicht mehr trauen kann. In den nächsten drei Jahren reduziert sich ihr Sehvermögen drastisch und sie erlebt, wie sich ihre Klassenkameraden über sie und ihr neuerdings vorsichtiges und merkwürdiges Verhalten lustig machen. Sie scheint plötzlich nicht mehr dazu zu gehören, wird zur Außenseiterin. Immer mehr zieht sie sich in sich zurück — ins Abseits, lehnt Einladungen ab, vermeidet Menschenansammlungen und unbekannte Wege. Die Furcht vor dem ewigen Dunkel wächst. Unvorstellbar, nicht mehr Radfahren, Licht und Farben nicht mehr sehen zu können!

Als ihr Lesen selbst mit starken Lupen nicht mehr möglich ist, konzentriert sie sich auf die Bücher, die ihre Eltern ihr vorlesen, Literatur, die Pädagogen nicht unbedingt für die inzwischen Zwölfjährige empfehlen würden. Eines dieser Bücher, die Biografie von Angela Davis, ist es dann auch, das für Sabrye zu einem Schlüsselerlebnis wird. Die Sozialaktivistin, die als Farbige ebenso im Abseits wie das langsam erblindende Mädchen steht, zeigt ihr eine neue Sicht auf ihre Blindheit. Sabrye ist ungemein beeindruckt von der kämpferischen Angela Davis, und langsam wird ihr klar, dass sie ebenfalls selbst aktiv werden muss. Als sie dann von dem Gymnasium für blinde und sehbehinderte Kinder in Marburg hört, wechselt sie kurzerhand die Schule und beendet damit die wenig erfolgreiche "wilde Integration".

Mittendrin und selbstbestimmt

Die Blindenstudienanstalt in Marburg, gegründet 1916 von Carl Strehl, ist das einzige Gymnasium für blinde Jugendliche im deutschsprachigen Raum, feiert heuer also ihr 100-jähriges Bestehen. Die Schüler wohnen in Wohngemeinschaften (WGs), lernen früh mit Geld umzugehen, sich selbst zu versorgen, einen Haushalt zu führen und gehören in Marburg sozusagen zum Stadtbild. Viele von ihnen bleiben auch zum Studieren in der Universitätsstadt, die angeblich fast so viele Studenten wie Einwohner hat.

Da die WGs über einen ganzen Stadtteil verstreut sind, müssen die SchülerInnen den Schulweg eigenständig bewältigen und werden daher intensiv in Mobilität und Orientierung geschult. Für die Ausbildung selbst ist die Kenntnis der Brailleschrift Voraussetzung, um Fächer wie Physik und Chemie zu bewältigen und Musiknoten lesen zu können.

Die zwölfjährige Sabrye bringt keine allzu guten Voraussetzungen mit. Sie kennt keine Brailleschrift, hat keine Erfahrung mit dem Langstock und auch schulischen Aufholbedarf. Sie absolviert daher vorerst einen Vorbereitungslehrgang, bevor sie am regulären Unterricht erfolgreich teilnehmen kann.

Vor allem das Mobilitätstraining eröffnet der Jugendlichen ungeahnte neue Freiheiten. Jetzt scheut sie trotz völliger Erblindung weder Menschenansammlungen noch unbekannte Wege, beginnt zu reiten und widmet sich mit Begeisterung dem Kajakfahren. Die Lehrkräfte legen großes Gewicht auf ein gutes Körpergefühl und sinnvolle Freizeitgestaltung; das Angebot an Aktivitäten ist daher entsprechend umfangreich.

"Gibt es ein Leben nach dem Abitur?"

Mit dieser provokanten Frage betritt eines Tages der Ethiklehrer die Klasse. Die Teenies sind genervt, wollen sie doch vorerst einmal bloß durchs Abi kommen. Zögernd stellen sie sich der Aufgabe, ihre Wünsche an das Leben aufzuschreiben, und zwar ohne Berücksichtigung der durch die Sehbehinderung gegebenen Einschränkungen. "Denkt an das, was ihr wirklich wollt und nicht an das, was ihr könnt", lautet die Aufgabe. Für Sabrye ist es klar, was sie will: Abenteuer, reisen, und zwar alleine! Sprachen lernen und vor allem, an die eigenen Grenzen gehen und etwas Sinnvolles tun — etwas verändern. Der Lehrer nimmt das sehr ernst und meint dazu, dass sie mit diesen Vorstellungen am besten in die Entwicklungshilfe gehen sollte.

Und so kommt es, dass die Abiturientin nicht wie viele andere Jura oder Wirtschaft studiert, sondern Tibetologie, Soziologie und Philosophie. Sie entwickelt eine eigene tibetische Blindenschrift, die inzwischen offiziell anerkannt ist und reist im letzten Studienjahr nach Tibet, um die Situation blinder Menschen vor Ort kennen zu lernen. Behinderung wird in Tibet als Strafe für Verbrechen in früheren Leben angesehen. Blinde Menschen werden daher versteckt, ausgegrenzt und nicht beschult. Etliche fristen ihr Dasein als Straßenkinder.

So entsteht die Idee, eine Blindenschule zu gründen, keine Sonderschule im herkömmlichen Sinn, sondern eine Schule, die die Kinder auf die Integration in Regelschulen vorbereitet. Sie sollen lernen, sich selbst zu integrieren.

Die Traumwerkstatt

Buchcover

Bildbeschreibung: Buch: Sabrye Tenberken
Die Traumwerkstatt von Kerala
© Verlag Kiepenheuer & Witsch

Die Grundlage für die heute in Kerala beheimatete Traumwerkstatt wurde vermutlich schon durch die Aufforderung des Ethiklehrers gelegt, Träume und Visionen für das eigene Leben zu entwickeln. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Paul Kronenberg, den sie bei ihrem ersten Aufenthalt in Tibet kennen gelernt hatte, damals einer der wenigen Menschen, der ihre Ideen nicht für verrückt hielt, setzte Sabrye Tenberken das Konzept der "Traumwerkstatt" bereits in der von den beiden gegründeten Blindenschule in Tibet ein. Die Kinder sollten früh lernen, ihre Lebensziele zu erforschen, weiter zu entwickeln und letztlich in die Tat umzusetzen.

Die Saat ist aufgegangen: So hat inzwischen einer der Absolventen das vermutlich größte Massageinstitut Tibets gegründet, ein anderer hat die Leitung der Blindenschule übernommen, als das Gründerpaar nach Kerala weiterzog.

Auch Visionen brauchen ein Konzept

Zitat aus dem Buch: Das kanthari-Curriculum ist ein siebenmonatiges Kursprogramm mit dem Ziel, eine Idee bis zur realistischen Umsetzung zu bringen; daran schließt sich eine fünfmonatige begleitete Praxisphase an."

Das Ausbildungsprogramm in der Traumwerkstatt basiert nicht auf Frontalunterricht, sondern auf einem intensiven Training. Die Ausbildner nennen sich nicht Lehrer oder Professoren, sondern Katalysatoren, was ihre Funktion recht gut charakterisiert: Sie sind der Prüfstein oder auch Stein des Anstoßes für die Studenten bei der Entwicklung und Umsetzung ihrer Visionen. Um möglichst realistische Bedingungen für die Entwicklung eines sozialen Projekts zu schaffen, gibt es das fiktive Land Tansalesea, in welchem die Studenten ihre Projekte vorstellen, weiter entwickeln und dann auch umsetzen müssen. Die Katalysatoren übernehmen dabei die unterschiedlichsten Rollen. Sie repräsentieren korrupte oder ignorante Beamte oder Sponsoren, die soziale Projekte bloß für ihre eigenen oft fragwürdigen Zwecke missbrauchen wollen. Da werden Anträge mit fadenscheinigen Begründungen abgeschmettert, da protestieren Bevölkerungsgruppen gegen ein Projekt und da gibt es Ausgrenzung und Anfeindung, ja sogar Verfolgung. Aber natürlich gibt es auch die "echten" Unterstützer und Helfer, die es zu finden gilt. Das Trainingsprogramm in Tansalesea ist eine harte Schule, aber eine gute Vorbereitung auf die Bedingungen in der realen Welt.

Ehemalige Absolventen stellen darüber hinaus ihre inzwischen gemachten Erfahrungen bei der Umsetzung ihrer sozialen Projekte für die Traumwerkstatt bereit, um die künftigen kantharis möglichst gut auf ihre schwierige Aufgabe vorzubereiten.

Ob es nun darum geht, blinde Bienenzüchter in Uganda auszubilden und ihnen damit eine Existenzgrundlage zu verschaffen, oder darum, eine Schule für lernbehinderte Kinder in Kenia zu gründen- auf dem Campus lernen sie, ihre Visionen zu formulieren, zu präsentieren, Mitarbeiter und Sponsoren zu rekrutieren und letztlich die Initiative auch umzusetzen.

Welche Triebkraft hinter so mancher Vision steckt, lässt sich oft nur erahnen. So werden etwa in Ostafrika Menschen mit Albinismus nicht nur als Außenseiter betrachtet, sondern auch grausam gejagt, weil man ihren Körperteilen Zauberkraft zuschreibt, berichtet Jayne, selbst betroffen und Absolventin der Traumwerkstatt. Zitat: "Früher mussten wir Menschen mit Albinismus uns lediglich vor der Sonne in Acht nehmen und uns gelegentlicher Hänseleien erwehren. Heute hat der Spießrutenlauf eine gewalttätige Form angenommen. Wir müssen uns gegen Hexenglauben und Menschenjäger zur Wehr setzen."

Die Schärfe der kantharis

Die inzwischen 141 kantharis kommen vorwiegend aus Afrika und Asien. Manche haben ein Universitätsstudium, andere waren Straßenkinder mit minimaler Bildung. Gemeinsam ist ihnen die aus ihrem Schicksal entstandene Vision, Veränderungen in der Gesellschaft herbeizuführen, die sie im Rahmen des Trainings weiter entwickelt haben.

Die kantharis sind ebenso scharf wie die Frucht. Sie sind zu sozialen Aktivisten geworden, weil sie erkannt haben, dass aus einem schweren Schicksal positive Energie freigesetzt werden kann.

Es mag ja sein, dass die inzwischen übrigens mehr als 100 kleineren und größeren sozialen Projekte der kantharis bei den vielfältigen Problemen in unseren Gesellschaftsstrukturen wie der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein wirken mögen. Aber basieren nicht viele bedeutende Initiativen, wie etwa das Rote Kreuz, auf der Entscheidung einer einzelnen Person? Die scharfen kantharis in unserer Gesellschaft haben ihre Wurzeln jedenfalls in der Bereitschaft eines erblindenden Mädchens, das seine Behinderung in erster Linie als Herausforderung verstand, den Kampf gegen soziale Benachteiligungen und Ausgrenzung aufzunehmen und die daraus gewonnenen Erfahrungen an andere soziale Aktivisten weiter zu geben.

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