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Die kostbarsten Schätze meines Lebens sind die glücklichen Erinnerungen.

Die Kramlade - Schatzkiste der Erinnerungen

September 2008

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Wir besuchen mein Elternhaus nicht regelmäßig. Kein Wunder also, dass so mancher alltägliche Gebrauchsgegenstand fehlt, wenn man ihn braucht und kein Geschäft offen hat, weil Sonntag ist. Diesmal ist es die leere Klebebandrolle.

Die seit dem Tod meiner Eltern leer stehende Wohnung im Erdgeschoß ist so manches Mal eine echte Fundgrube. Also mache ich mich auf die Suche in der Hoffnung, dass in der Kramlade unterhalb des eingebauten Kühlschranks noch eine uralte Tixorolle zu finden sein wird.

Ich finde darin Kugelschreiber, Büroklammern, einen etwas ramponierten Schreibblock, einen Stempel mit Stempelkissen, eine Schere - und kein Tixoband. Als ich die Lade enttäuscht schließen will, klemmt sie. Irgend etwas steckt offenbar. Ich lange nach hinten und meine Finger fördern ein kleines Heft mit glattem Einband, etlichen Knitterstellen und einem unschönen Eselsohr zu Tage.

Geschriebenes lässt sich oft auch fühlen

Ich schlage das Heft irgendwo auf und lege meine Hand darauf, um festzustellen, ob das Papier beschrieben ist. Dort, wo sich Schrift oder Linien befinden, hat der Kugelschreiber das dünne Papier nämlich geradezu graviert, sodass die Abdrücke zumindest auf der Rückseite deutlich zu spüren sind. Darum kann ich feststellen, ob es sich um zeilenweise Geschriebenes, Tabellen oder Zeichnungen handelt.

Und obwohl ich nichts lesen kann, weiß ich doch sofort, was ich in Händen halte: Das Heft, in dem meine Eltern die Ergebnisse unserer zahllosen Kartenspielabende sorgfältig eingetragen haben.

Meine Finger gleiten über eine Seite, auf der die drei senkrechten Linien für die Trennung der Spalten und die Zahlenkolonnen dazwischen deutlich zu fühlen sind. Die linke Kolonne ist mit "Papa" überschrieben, die mittlere mit "Mama" und die 3. Spalte mit "Eva", wie ich weiß. Ganz rechts ist Platz für die zusammen gefassten Tagesergebnisse.

Ich blättere durch das Büchlein und finde mühelos jene Stelle, wo die Eintragungen mitten in einer rechten Seite enden. Die untere Hälfte des Papiers ist ganz glatt, nur die senkrechten Linien sind bis unten durchgezogen.

Reise in die Vergangenheit

Mit geschlossenen Augen sitze ich da und längst entschwundene Nachmittage und Abende tauchen auf: Meine Eltern und ich rund um den Küchentisch. Ich sitze in der dunklen Ecke neben dem Kühlschrank, weil meine Augen sehr lichtempfindlich sind. Links um die Ecke mein Vater, mir gegenüber meine Mutter. Zwischen meinen Eltern liegt an der Tischkante das Heft mit dem Kugelschreiber, in der Tischmitte liegt der Stoß Spielkarten.

Dieses Bild hat sich im Laufe der Jahre kaum verändert, die Methodik unseres Spiels aber sehr wohl. Wir haben sie Schritt für Schritt an die fortschreitende Verschlechterung meines Sehvermögens angepasst.

Glückliche Abende ganz ohne Fernsehen

Ich weiß nicht genau, in welchem Alter mich Papa mit den Spielkarten vertraut gemacht hat, aber es war sicher noch während meiner Volksschulzeit. Denn die Mutter meines Vaters lebte damals bei uns, und sie starb, als ich etwa zehn war.

Wenn wir zu zweit waren oder Mama absolut keine Lust hatte, spielten wir 66, zu dritt Kanaster oder Rommé. Damals konnte ich sowohl mein eigenes Blatt als auch die auf dem Tisch liegenden Spielkarten bei günstiger Beleuchtung noch erkennen. Allerdings identifizierte ich die Karten mehr an ihrem Gesamtbild als an den tatsächlichen Informationen. Ein As erkannte ich leicht an der großen weißen Fläche mit dem einzelnen Symbol in der Mitte, die 4 am Freiraum in der Mitte und den "Farbflecken" am oberen und unteren Kartenrand, die 10 an der Dichte der "Farbflecken" und dem kleinen weißen Freiraum in der Mitte. Gelegentlich musste ich auch nachfragen, ob "das Rote da drüben" Karo oder Herz war. Auch die Figuren erkannte ich eher am Gesamteindruck von Farbe, Dichte und Kombination der Farbflächen, weil ich Details ohnehin nicht sehen konnte. Es war zumindest auf größere Distanz also mehr ein "Mustervergleich" anhand in der Nähe gemachter Erfahrungen als deutliches Sehen.

Geänderte Methode - gleicher Spaß

Etliche Jahre später, als ich bereits in der Berufsausbildung war, musste ich bei jenen Karten, die meine Eltern auf dem Tisch ausgelegt hatten, grundsätzlich nachfragen. Die Kartenreihen hoben sich wohl immer noch in ihren Umrissen vom Tischtuch ab, aber die Informationen darauf waren zu verschwommen und vermischten sich immer öfter mit dem Muster des Tischtuchs. Allerdings konnte ich noch den Unterschied zwischen Ziffernkarten und Figuren unterscheiden. Darum gewöhnten wir uns alle an, beim Ablegen der Karten immer dazu zu sagen, was wir auf den Tisch legten. Ich versuchte es mir zu merken, bei Bedarf fragte ich aber nach.

Irgendwann fiel es mir immer schwerer, selbst mein eigenes Blatt zu erkennen. Immer häufiger lehnte ich mich in die dunkle Ecke zurück und kniff die Augen fest zusammen, um das Bild schärfer zu bekommen und den Winkel des Lichteinfalls zu optimieren. Es kam sogar vor, dass ich im Zweifelsfall eine Karte meines Blattes umwandte und fragte, um welche es sich handelte. Man sollte meinen, dass derartige Anstrengungen den Spaß verderben könnten, aber für viele solcher Probleme gibt es eine Lösung. Warum also auf das Vergnügen verzichten?

Wenn Finger das Auge ablösen

Von der 1. Klasse an hatte ich - dem Rat des Augenarztes folgend - die Blindenschrift erlernt, weil die Verschlechterung meines Sehvermögens vorhersehbar war. Was lag also näher, als die Spielkarten mit der von Louis Braille erfundenen Punktschrift zu versehen! Ich stichelte also Kurzzeichen in die 118 Karten aus festem Karton und wir konnten weiter spielen. Auch wenn dies anfangs den Spielverlauf etwas verzögerte und sich sowohl meine Eltern als auch ich erst an die neue Methode gewöhnen mussten, verdarb uns das nicht die Freude am Spiel - zumindest Papa und mir nicht. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, spielte Mama eigentlich nur uns zu Liebe mit. Sie hatte nie wirkliches Vergnügen daran. Und während Papa und ich unsere Strategien trainierten und verfeinerten und einander auszutricksen suchten, musste Mama so manche Niederlage einstecken.

Die erweiterte Runde

Nach meiner Eheschließung wurde mein Mann Hannes erfreut in die Spielrunde aufgenommen und die Stimmung noch vergnüglicher. Er führte auch gleich eine Neuerung ein: Jeder gab einen seiner Punkteanzahl (geteilt durch 100) entsprechenden Betrag in eine gemeinsame Kasse. Sobald eine höhere Summe beisammen war, gingen wir gemeinsam essen.

Ich versuche herauszufinden, an welcher Stelle im Heft die Erweiterung um eine Spalte für "Hannes" erfolgt ist, aber das will mir nicht gelingen.

Die Runde wird wieder kleiner

Als es Mama immer schwerer fiel, sich auf das Spiel zu konzentrieren, mochten wir sie nicht länger damit belästigen und spielten wieder zu dritt. Aber irgendwie war es nicht mehr ganz so vergnüglich und die Abstände zwischen den Spielen wurden größer und größer. Als mein Vater 1995 starb, hörten Hannes und ich ganz damit auf und gingen künftig anderen Freizeitbeschäftigungen nach. Die leer stehende Wohnung mit den verwaisten Plätzen am Küchentisch signalisierte allzu deutlich, dass eine Ära zu Ende gegangen war.

Rückkehr in die Gegenwart

"Und, gibts ein Klebeband?" Hannes hat von mir unbemerkt die Küche betreten und reißt mich aus meinen Erinnerungen. "Ich weiß nicht", sage ich zerstreut. Er bemerkt das Heft in meiner Hand und nimmt es mir ab. "Aber das ist doch unser Kartenspielheft", sagt er erfreut und blättert darin, während ich bereits nach den alten Spielkarten krame, die ich auch finde. Sie sind vergilbt, tragen etliche unschöne Fingerabdrücke und fühlen sich ziemlich klebrig an. Kein Wunder, sind sie doch geschätzte 45 Jahre alt. Jetzt braucht sie niemand mehr, aber ich schiebe sie dennoch zusammen mit dem lädierten Heft wieder zurück in die Schublade - meine Schatzkiste mit vielen glücklichen Erinnerungen an gesellige Nachmittage und Abende mit meinen Eltern.


Ein paar Tipps

Wenn das Sehvermögen immer schwächer wird, muss man dennoch auf viele lieb gewordene Freizeitbeschäftigungen nicht unbedingt verzichten. Viele Gesellschaftsspiele wurden ebenso adaptiert wie Gegenstände des täglichen Gebrauchs (Uhren, Küchengeräte, Messhilfen etc.). Ergänzt wird das Angebot durch eine Reihe kleiner Alltagshilfen, wie Geldscheinprüfer.

Zu finden sind solche Produkte nicht im normalen Handel, sondern bei speziellen Einrichtungen. Stellvertretend hier zwei Adressen für Österreich.

Für weitere Informationen nutzen Sie bitte den Link für Kontakt. Ernst gemeinte Anfragen beantworte ich gerne und möglichst prompt.

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