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Wenn Gemälde hör- und fühlbar werden.

Gemeinsam anders sehen

18.11.2014

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Bücherstapel

Bildbeschreibung: © KHM Museumsverband
Zu sehen sind die Cover mehrerer Exemplare des inklusiven Museumsbuchs. Links ein aufgeschlagenes mit tastenden Finger auf Braille-Schrift.

Meine umfangreiche Bücher­sammlung ist vor kurzem durch einen besonderen Schatz angereichert worden. Am 15. Oktober, dem Tag des weißen Stocks, wurde das inklusive Museumsbuch im Kunsthistorischen Museum vorgestellt. Es trägt den Titel "Gemeinsam anders sehen — Das etwas andere Museumsbuch für Sehende und Menschen mit Sehbeeinträchtigung".

Die vier ausgewählten Werke repräsentieren vier in der Galerie häufig vertretene Bildgattungen. Der Sommer von Giuseppe Arcimboldo zählt zur Allegorie, Infantin Margarita Teresa in rosafarbenem Gewand von Diego Velázquez zur Portraitmalerei, Die Jäger im Schnee von Pieter Bruegel d. Ä. zur Landschaftsmalerei und Das Haupt der Medusa von Peter Paul Rubens ist der Mythologie zuzuordnen.

Zu Beginn des Buches folgen nach einer kurzen Einleitung zwei CDs, eine mit klassischen Audiodateien, die zweite — zur Unterscheidung in Braille-Schrift beschriftet — im Daisy Format, das ein komfortables Navigieren zwischen den einzelnen Kapiteln des Buches ermöglicht. Die CDs beinhalten ausführliche Bildbeschreibungen, Künstlerbiographien und vertiefende Informationen zum Kunsthistorischen Museum und der Gemäldegalerie.

Finger auf Tastfolie

Bildbeschreibung: © KHM Museumsverband.
Auf einem Fensterbrett liegt ein aufgeschlagenes Buch und Hände erkunden die tastbare Darstellung des Gemäldes 'Der Sommer' von Giuseppe Arcimboldo.

Ein Zwischenblatt markiert den jeweiligen Anfang eines neuen Kapitels. Zu Beginn findet der Leser eine Gesamt­abbildung der besprochenen Komposition, farblich in verstärkten Kontrasten wiedergegeben, sodass auch für möglichst viele Menschen mit eingeschränkter Farbwahrnehmung das Erkennen erleichtert wird. Darüber liegt ein Tastrelief in Form einer taktilen Transparentfolie, die das Erfassen der Bildkomposition mit den Fingern unterstützt. Es folgt die Kurzbildbeschreibung und Erläuterung der Bildgattung in gut lesbarer und vergrößerter Schrift, danach eine Detailansicht des Gemäldes. Auf diesem Bilddetail sind Linien in unterschiedlicher Stärke appliziert. Diese bieten eine Hilfestellung zur Erfassung von Tiefenräumlichkeit. Zuletzt folgt der zuvor erwähnte Schwarzschrifttext in Braille-Schrift.

Am Anfang steht das Wort

Ich lese gern und viel. Es wird daher niemanden verwundern, wenn ich in dem vorliegenden Buch mich zuerst mit dem Text in Braille-Schrift befasse. Beim Lesen entstehen ganz automatisch Bilder in meinem Kopf. Stets bin ich bereit, mich von wortgewandten Beschreibungen mitreißen zu lassen. Begierig stürze ich mich auf Schilderungen von Farben und Stimmungen — alles willkommene Nahrung für meine Fantasie, der ich gerne Flügel wachsen lasse. Ich betrachte alles — hier ein Gemälde — durch die Augen eines anderen und bin hinterher manchmal gar nicht mehr sicher, was ich irgendwann selbst gesehen und was ich bloß gelesen oder gehört habe.

Aber am besten ist es wohl, wenn sich meine Leser selbst davon überzeugen können, wie verbale Kunstvermittlung funktioniert:

Diego Velázquez (1599—1660),
Infantin Margarita Teresa in rosafarbenem Gewand, um 1653/54
Leinwand, 128,5 mal 100 cm

Was für ein bezauberndes kleines Mädchen blickt dem Betrachter aus seinen graugrünen Augen entgegen! Es ist ungefähr drei Jahre alt. Blonde, schulterlange, gescheitelte Haare umspielen sanft sein Gesicht. Es trägt ein langärmeliges, bodenlanges Kleid aus glänzender rosa und grauer Seide. Der weit abstehende Reifrock verleiht dem Kleid ab der Taille eine duftige Fülle und Eleganz. Kostbare schwarze Spitzen als Manschetten und am Kragen unterstreichen den noblen Charakter der Robe. An den Handgelenken, um die Taille und an der Schulter schillern rosa Seidenschleifen. Die Länge des Kleides lässt keinen Blick auf ihre Schuhe frei.

Das circa 1,30 mal 1 Meter große Gemälde zeigt ein beinahe bildfüllendes ganzfiguriges Porträt der Infantin Margarita Teresa, der jüngsten Tochter des spanischen Königs Philipps IV. Am Tag ihrer Geburt wurde sie dem zukünftigen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Leopold I. aus dem Hause Habsburg, zur Frau versprochen.

Sie steht in der Mitte eines fast leeren Raumes auf einem reich gemusterten orientalischen Teppich und posiert vor einem halb geöffneten, einfarbigen blauen Vorhang. In ihrer linken Hand hält sie standesgemäß einen geschlossenen Fächer, mit ihrer rechten stützt sie sich auf einen Tisch, der mit einem blauen Tuch bedeckt ist. Darauf steht eine Vase mit hellrosa Rosen, blauen Schwertlilien und Vergissmeinnicht. Eine der Blüten ist aus der Vase gefallen und beginnt bereits zu verwelken. Die Blumen verleihen dem sonst leeren Raum eine beschauliche Atmosphäre.

Wie würdevoll die Infantin doch porträtiert wurde! Zugleich strahlt sie aber etwas natürlich Kindliches aus. Mit großen, musternden Augen schaut sie aufmerksam auf den Betrachter. Es ist nicht verwunderlich, dass sie der Liebling des spanischen Hofes war.

Dieses Bildnis malte der Hofmaler Diego Velázquez im Auftrag König Philipps IV. Es ist das erste von dreien, die die Infantin in unterschiedlichem Alter zeigen und heute noch in der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums zu bestaunen sind. Diego Velázquez schuf hier ein Porträt voller Natürlichkeit und dennoch eleganter repräsentativer Ausstrahlung.

(Dr. Rotraut Krall, Kunsthistorisches Museum)

Mir ist beinahe, als hätte ich das Bild gesehen: Die elegante Robe, die Blumen auf dem Tisch mit der einzelnen herabgefallenen Blüte, der Vorhang im Hintergrund — all das fügt sich zu einem ungefähren Bild zusammen, auch wenn dieses eher schemenhaft und ungenau ist, so beinhaltet es doch schon die Ruhe und Eleganz der Darstellung, weckt mit der Erwähnung der Farben die Erinnerung an einmal Gesehenes und die Assoziation mit etwas Schönem.

Und doch ... es bleibt die Sehnsucht nach einem noch deutlicheren Abbild, nach etwas, das mir hilft, Antworten auf die noch offenen Fragen zu finden, wie etwa: Blickt das Mädchen geradeaus dem Betrachter entgegen?

An den richtigen Platz gerückt

Ich wende mich der Abbildung zu — und schon ist die oben gestellte Frage beantwortet. Nein, das Mädchen blickt nicht exakt geradeaus.

Auch wenn die tastbare Abbildung weder Farbe noch Stimmung wiedergeben kann, so rückt sie doch die einzelnen Elemente an ihren Platz und gibt Auskunft über Größe und Proportionen.

Nie und nimmer hätte ich jedoch ohne die verbale Beschreibung erkannt, was das Mädchen in ihrer linken Hand hält, und schon gar nicht, dass links neben der Vase eine einzelne Blüte liegt.

Ein wenig Luxus

Auch wenn eine noch so gute Beschreibung zusammen mit einer möglichst detailgenauen tastbaren Darstellung niemals auch nur annähernd an die visuelle Betrachtung des Gemäldes heranreichen kann, so ist sie für mich dennoch ein Stück Luxus in meinem Alltag, der von Notwendigkeiten wie die sichere Orientierung im Straßenverkehr dominiert wird. Es ist, als hätte sich eine Tür einen Spalt breit zu einer Schatzkammer geöffnet, in der ich gerne weiter stöbern möchte.

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4 Kommentare

  1. Fritz schrieb am Montag, 17.11.14 21:49 Uhr:

    Liebe Eva,
    Puh! Und ich dachte immer, ich könnte gute Bildbeschreibungen texten. Was Frau Dr. Krall hier allerdings vorgelegt hat, lässt mich diesbezüglich ganz bescheiden und kleinlaut werden.
    Ich hab' versucht, die "Spielregeln" einzuhalten, oder besser gesagt die Reihenfolge. Da ich das Gemälde nicht kannte, war es mir möglich, mir zuerst auf Basis der Bildbeschreibung "ein Bild zu machen", oder es zumindest zu versuchen, und erst anschließend dieses Bild auf Übereinstimmung mit dem Originalgemälde zu überprüfen.
    Ich verstehe deine Begeisterung.

  2. Eva schrieb am Dienstag, 18.11.14 13:20 Uhr:

    Danke für den Kommentar. Also war es doch richtig, die Abbildung nicht in den Artikel zu stellen, sondern nur darauf zu verlinken. Ich habe sehr gehofft, dass der eine oder andere Leser nicht gleich klickt, sondern erst einmal die verbale Beschreibung auf sich wirken lässt.

    Übrigens: Es gibt keinen Grund "kleinlaut" zu werden. Deine Bildbeschreibungen sind erste Sahne! Das hier aber ist Kunstvermittlung und somit eine ganz andere Aufgabe.

    Ja, ich bin hellauf begeistert von den Beschreibungen der Gemälde. Vor allem deshalb, weil sie sehr einfühlsam auf Details eingehen, die für blinde "Betrachter" wichtig sind und dem Werk Leben einhauchen, ohne es gesehen zu haben.

  3. Maria schrieb am Dienstag, 25.11.14 13:35 Uhr:

    Was das Besondere an der Malweise von Velázquez ist, erfährt man aus dieser Bildbeschreibung nicht, aber vielleicht steht das ja noch woanders...

  4. Eva schrieb am Dienstag, 25.11.14 17:23 Uhr:

    Ja, es gibt auch Informationen zum Malstil. Allerdings wollte ich hier nicht den gesamten Text abdrucken.

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