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Begegnungen

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Der Schmerz, den das Leben Kindern zufügt, macht sie allzu früh erwachsen.

Ivonne und Dana

Februar 2010

Zu den (3) Kommentaren

Die Begegnung mit den beiden Mädchen (deren Namen ich geändert habe) liegt nun schon zwei Jahre zurück, aber sie lässt mich einfach nicht los.

1. Februar 2008

Der Platz neben mir in der Straßenbahn ist leer und ich packe meinen Organizer aus, um den vor kurzem begonnenen Roman weiter zu lesen.

Nach einigen Stationen steigen etliche Kinder und Jugendliche zu, die sich auf der hinteren Plattform versammeln und einen ziemlichen Krach schlagen. Dann setzt sich jemand neben mich und eine zweite Person in die Reihe vor mir.

Irgendwann kommt die Frage von meiner Nachbarin, ob das denn Blindenschrift sei, was ich da lese und ich bejahe. Das andere Mädchen in der vorderen Reihe hat sich umgedreht und beide scheinen mich erwartungsvoll anzublicken. Also höre ich auf zu lesen und warte.

Und dann kommen Fragen über Fragen. Zuerst ein wenig zögernd, dann immer rascher und eifriger - geradezu Schlag auf Schlag. Was ich denn da lese, wann ich das gelernt hätte, welche Schule ich besucht hätte, was ich arbeite ...

"Und wie ist das denn im Supermarkt, wenn Sie die Waren nicht sehen und die Schrift nicht lesen können", will Ivonne, das Mädchen neben mir, schließlich wissen, und ich staune einmal mehr, wie treffsicher doch Kinder im Erkennen von Problemen sind.

Und dann gibt mir Ivonne ihre Telefonnummer, damit ich sie anrufen kann, wenn ich einmal Hilfe beim Einkaufen brauchen sollte und Dana, das andere Mädchen bietet auch spontan ihre Begleitung an. Ich bin sprachlos, zücke aber mein Handy und tippe die Nummer ein. Und natürlich ist die Sprachausgabe meines Handys eine weitere Quelle für neuerliche Fragen.

Irgendwann unterbricht sich Ivonne, die couragiertere der beiden, selbst und fragt: "Darf ich denn all diese Fragen stellen? Ist Ihnen das nicht unangenehm?" Und das aus dem Mund eines Kindes!

Wir sind drei Stationen gefahren, als die Mädchen hektisch aufspringen und zur Türe stürzen. Sie hätten beinahe ihre Station verpasst.

Ich bleibe grübelnd zurück. Die Mädchen sind kaum älter als zehn, höchstens elf Jahre und ihre Fragen klingen wie die von Erwachsnen, nicht hastig und sprunghaft, wie das bei Kindern oft der Fall ist, sondern gut überlegt und meine Antworten in die nächste Frage einbeziehend.

4. Februar 2008

Am Montag danach steigen bei derselben Station wieder etliche Jugendliche ein. Ein Junge ist dabei, der unverkennbar raucht, was natürlich verboten ist. Ich glaube aus dem Stimmengewirr Ivonnes Stimme herauszuhören, und da kommen die beiden Mädchen schon auf mich zu und nehmen Platz.

Wieder hageln Fragen über Fragen und mir will scheinen, sie haben sich auf diese Begegnung vorbereitet. Kochen, Haushalt, der Weg zur Arbeit - alles scheint sie zu interessieren und dann fragen sie mich, ob ich Kinder habe, was ich verneine.

Eine Weile bleibt es still, dann nehme ich all meinen Mut zusammen und beginne meinerseits ein paar Fragen zu stellen - vorsichtig und ein wenig unsicher, beinahe schüchtern, wie es sonst gar nicht meine Art ist. Was ich da erfahre, erklärt zum Teil, warum die Mädchen gar so erwachsen klingen.

So wie auch die anderen Kinder auf der hinteren Plattform gehen sie in die Schule am Enkplatz und leben in einem Kinderheim.

Dana spricht über sich fast wie über eine unbeteiligte Fremde, monoton, ja geradezu emotionslos, als ginge es um jemand ganz anderen. Sie kommt aus Bosnien und ist zur Hälfte Albanerin, kann sich an ihre Mutter kaum erinnern und ihren Vater kennt sie gar nicht.

Ivonne ist deutlich zurückhaltender. Sie ist in Österreich geboren, ein Elternteil stammt jedoch aus Ungarn. Dann schweigt sie wieder und ich käme mir indiskret vor, weitere Fragen zu stellen.

Als wir uns dem Schwedenplatz nähern und ich die beiden aufmerksam mache, dass sie aussteigen müssen, erklärt Ivonne, sie hätten erst in der 2. Stunde Unterricht und möchten mich daher zu meiner Arbeitsstelle begleiten; da hätten wir mehr Zeit zu reden.

Ich bin irritiert, vor allem, weil ich nicht glauben kann, dass die beiden so früh aus dem Haus gehen, wenn sie erst um 9 Uhr Unterricht haben. Aber was weiß ich denn schon von den Gepflogenheiten in einem Kinderheim?

Wie umsichtig und praxisorientiert Ivonne und Dana sind, zeigt sich aber auch diesmal. Sie möchten von mir wissen, mit welchen öffentlichen Verkehrsmitteln sie von meiner Arbeitsstelle aus am besten in ihre Schule gelangen. Da kann ich helfen, denn mit den Wiener Öffis kenne ich mich gut aus, was die beiden nicht besonders zu erstaunen und schon gar nicht zu beeindrucken scheint.

Ohne dass ich danach frage, erzählt Ivonne heute, dass sie immer Streit mit ihren Eltern hatte und darum vom Jugendamt ins Heim geschickt wurde. "Meine Eltern wollen mich nicht", sagt sie zur Erklärung; nichts weiter und ich gebe mich damit zufrieden.

Mir wird immer beklommener zu Mute. Wie rüde doch das Leben mit diesen beiden jungen Menschen bereits umgegangen ist.

8. Februar 2008

Es ist Zeugnistag. Als die kleine Gruppe in die Straßenbahn einsteigt, lausche ich konzentriert, aber ich kann weder Ivonne noch Dana hören.

Dann sitzt Ivonne plötzlich wieder neben mir. Diesmal ist sie allein und ganz still. Sie wirkt auf mich bedrückt, stellt keine Fragen und auch ich schweige vorerst abwartend. Ich hätte gerne nach Dana gefragt, aber irgend etwas hindert mich daran.

Ich habe zwei Blindenalphabete mitgebracht, weil Ivonne mich beim letzten Treffen gefragt hat, wie man die Schrift erlernen kann. Ich gebe sie ihr und eine Weile betrachtet sie das Blatt kommentarlos, dann beginnt sie abwesend damit zu spielen.

Ich wage endlich die Frage, ob es Ivonne etwa nicht gut gehe. "doch, doch", kommt ihre Antwort - viel zu rasch, um glaubhaft zu sein. Daher wage ich einen 2. Vorstoß: "Wie wird denn dein Zeugnis ausfallen?" Denn heute ist der letzte Schultag vor den Semesterferien. "Weiß ich nicht", gibt sie lakonisch zur Antwort, und auch das klingt keineswegs glaubwürdig. Ivonne ist heute nicht in Redelaune oder sie hat echten Kummer.

Das sind jene Augenblicke, in denen ich mir sehnlich wünsche, meinem Gesprächspartner in die Augen sehen zu können. Wenn jemand nicht mit mir redet, versagen viele meiner Antennen und ich kann wohl Bewegungen und einigermaßen die Körperhaltung erahnen, aber Mimik und Gestik bleiben mir verborgen und damit auch ein Großteil des Gemütszustands.

Ivonne ist anders als sonst und alle Signale, die mich erreichen, deuten auf Befangenheit, Trauer oder Schmerz hin.

Eine letzte Frage wage ich noch: "Weißt du schon, was du in den Ferien machen willst?" "Keine Ahnung", sagt sie.

Welche Aktivitäten wohl in den Ferien für elternlose Kinder in einem Kinderheim geplant sein mögen?

Inzwischen sind wir am Schwedenplatz angekommen und Ivonne muss aussteigen. Sie verabschiedet sich mit leiser Stimme.

Ich bleibe alleine zurück frage mich, was wohl mit Ivonne los ist und womit ihr seltsames Verhalten zu erklären wäre. Aber da gibt es zu viele Möglichkeiten und Spekulationen.

1. Februar 2010

Das alles ist nun zwei Jahre her. Ich habe weder Ivonne noch Dana je wieder getroffen, aber ich muss sehr oft an die beiden Mädchen denken und an die vielen anderen Kinder, die keine richtige Heimat haben, nicht wissen, wem sie sich mit all ihren kleinen und großen Sorgen anvertrauen können. Niemand nimmt sie in den Arm, wenn sie traurig sind und Kummer haben und vermutlich ist auch niemand da, der sie beschützt, ihnen die Richtung weist, sie begleitet und leitet.

Dann dringt in meine Traurigkeit aus den Tiefen meiner Erinnerung ein Strahl von Wärme, der mich mit unendlicher Dankbarkeit für die Liebe und Geborgenheit meines Elternhauses erfüllt. Was macht es schon aus, dass ich in vielen praktischen Dingen aufgrund meiner Blindheit immer wieder an Grenzen stoße. Verglichen mit Ivonnes trauriger Bilanz : "Meine Eltern wollen mich nicht.", hat mich das Leben äußerst reich beschenkt.

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3 Kommentare

  1. Stella Fiedler schrieb am Samstag, 07.06.14 20:11 Uhr:

    Danke.
    Für diese Geschichte, für den Blog. Einfach Danke.

  2. Philippe Roediger schrieb am Donnerstag, 12.06.14 11:04 Uhr:

    Ich bin bei der Suche nach Iphone-Informationen auf Ihre Seite gestoßen und hatte eigentlich vor, nur nach diesen zu suchen, jetzt sind eineinhalb Stunden vergangen und ich lese immer noch! Ich bin wirklich begeistert, mit wieviel Herzlichkeit Sie über sich und insbesondere auch über die beiden Mädchen berichten. Ich bin selbst Pflegekind in Deutschland und durch Retinitis Pigmentosa erblindet und kann ihnen in vielem nur zustimmen. Ich danke Ihnen wirklich von ganzem Herzen für diese Seite und werde bestimmt wieder lesen. P

  3. Eva schrieb am Montag, 23.06.14 18:31 Uhr:

    Meine lieben Leser und Kommentatoren,
    Vielen Dank für eure Kommentare, die mich ermutigen, doch noch die eine oder andere Begegnung nieder zu schreiben.

    Ich habe einmal versucht, die mir überlassene Telefonnumer zu wählen, aber sie war offenbar nicht mehr vergeben.

    Inzwischen sind weitere 4 Jahre vergangen und die beiden Mädchen stehen schon an der Schwelle zu ihrem erwachsenen Leben. Wie es ihnen wohl geht?

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