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Auch wenn Steine keine Lebewesen sind — so sind sie doch deutlich mehr als tote Materie.

Die Botschaft der Steine

07.03.2015

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"Nehmt einfach jeden Stein in die Hand, dreht ihn, befühlt ihn von allen Seiten und fragt euch, welche Form sich im Stein verbirgt." Anke B., Bildhauerin von Beruf, führt uns behutsam an das Material und unsere selbst gewählte Aufgabe der Speckstein-Bearbeitung heran. Wir sieben, drei Männer und vier Frauen, alle hochgradig sehbehindert oder ganz blind, lauschen gespannt, denn wir sind zu einem großen Teil auf Worte angewiesen. Anke hat die schwere Aufgabe übernommen, uns in den nächsten fünf Tagen mit den Grundbegriffen der Bildhauerei vertraut zu machen. Es ist, wie sie uns später gesteht, ihr erster Kurs, an dem ausschließlich blinde und stark sehbehinderte Interessenten teilnehmen.

Warum gerade Speckstein?

Von Kindheit an hatte ich immer irgendwelche Hobbys, die mit manueller Tätigkeit zu tun hatten: Entwerfen und Umsetzen komplizierter Strickmuster, Knüpfen von Wandteppichen oder Makramee-Arbeiten waren für mich weit mehr als sinnvolle Freizeitbeschäftigung und Entspannung. Das Gefühl, dass sich unter meinen Händen etwas verändert oder etwas Neues entsteht, hatte immer schon einen besonderen Reiz.

Zeitknappheit aber auch Verspannungen im Schulterbereich reduzierten die lieb gewordenen Abendbeschäftigungen immer mehr und verschwanden langsam komplett aus meinem Leben.

Als ich das erste Mal ein Gebilde aus Speckstein in Händen hielt, war ich fasziniert. Verglichen mit beispielsweise einem Halbedeltstein fühlte sich der Speckstein eher warm an. Die Oberfläche wirkt auch an jenen Stellen sehr glatt, wo sich Ecken und Kanten befinden, so als wäre er mit einer feinen Schicht überzogen. Nein, in Worten kann ich dieses haptische Erlebnis nicht wiedergeben. Als ich dann auch noch erfuhr, wie weich dieser Stein ist und wie leicht er sich bearbeiten lässt, ließ mich die Idee nicht mehr los, es eines Tages unter fachkundiger Anleitung selbst zu versuchen.

Anfang April 2008 war es dann endlich so weit: In Saulgrub (Oberbayern) fand ein Kurs für Specksteinbearbeitung statt. Das Wetter war geradezu ideal für unser Vorhaben: Einige Grade über dem Gefrierpunkt sowie heftiger Wind und häufige Regenschauer ließen uns den Werkraum im Kur- und Begegnungszentrum als eine wahre Oase von Wärme und Geborgenheit erscheinen.

Ein Seehund — was sonst?!

Ich folge Ankes Anweisung, drehe und wende den Stein, aber offenbar sind meine Antennen nicht auf Empfang gestellt oder der unförmige Steinbrocken in meiner Hand will mir nichts verraten. "Ich glaube, ich mache eine Art Muschel daraus", sagt Claudia schließlich zögernd. Sie ist Lehrerin und die zweite Teilnehmerin aus Österreich. Andrea, Programmiererin, hat schon etwas Erfahrung mit der Bearbeitung von Speckstein. Sie möchte sich an Kanten und Flächen versuchen, während Ellen, Pensionistin, an einer Schale arbeitet. Rule, von Beruf Psychotherapeut, scheint, so wie ich, noch keine bestimmten Pläne zu haben und Raimund, vor seiner Erblindung Zimmermann von Beruf, hat als Einziger anstelle von Speckstein einen Lindenholzblock zur Bearbeitung gewählt.

Ein kratzendes Geräusch lässt mich aufhorchen. Edgar, der neben mir sitzt, hat die Raspel zur Hand genommen und beginnt eifrig an seinem Stein zu schaben. "Und was soll es werden", erkundige ich mich neugierig und — zugegeben — ein wenig neidisch ob solch kreativen Tatendrangs. "Ein Seehund — was sonst", kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen.

Zögernd trete ich näher. "Darf ich", will ich wissen und er reicht mir bereitwillig seinen Stein. Keine Ahnung, wie er den Seehund im Stein entdeckt hat, aber nachdem ich den Stein ein paar Mal hin und her gedreht habe, beginne ich die Konturen des Seehunds zumindest zu ahnen. Wenn es um das Erkennen einer im Stein verborgenen Form geht, ist Edgar als gelernter Maurer offenbar deutlich im Vorteil.

Einfach ran an den Stein

"Manchmal", erklärt Anke, "zeigt sich die Form eines Steins erst im Laufe der Bearbeitung, wenn man den natürlichen Formen einfach nachgeht." Nein, Anke sagt mir keinesfalls, was sich in meinem Stein verbirgt. Vielmehr erläutert sie, dass es in der Bildhauerei immer um konkav und konvex, um glatt und rau, um rund und eckig geht. Sie ist eine sehr einfühlsame Lehrerin, stellt sich ganz auf die Bedürfnisse der Gruppe ein, drängt nichts auf, ist einfach da, wenn sie gebraucht wird.

Eigentlich habe ich nicht den Anspruch, künstlerisch tätig zu werden. Ich möchte lernen, mit welchen Methoden man den Stein bearbeitet, wie man Vertiefungen und Rundungen macht, welche Werkzeuge man benötigt und wie man das Endprodukt, was immer es auch werden mag, so glatt bekommt, wie man es von fertigen Stücken her kennt.

Phantasie, Raspel und Schleifpapier

Werkzeuge zur Bearbeitung von speckstein

Bildbeschreibung: Ein Stein, Raspel, Feile, Stahlwolle und verschiedene Schleifpapiere.

"Im Grunde kommt man mit dem Universal-Werkzeug, einer Holzraspel, vollkommen aus", erklärt Anke. Sie muss wohl meinen zweifelnden Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn nach einer Weile fügt sie hinzu: "Die fertige Form kann man dann mit unterschiedlich feinem Schleifpapier und Stahlwolle polieren oder auch wachsen.

Zögernd greife ich nach der Raspel und setze sie an jener Stelle an, an der mich von Anfang an eine unförmige Spitze besonders gestört hat. Erstaunt stelle ich fest, wie rasch die Ausbuchtung unter meinen Händen verschwindet und auf dem Tisch ein Häufchen feinen Staub zurücklässt — feiner als Mehl —, der sich irgendwie ein wenig fettig, aber sehr angenehm anfühlt. Dieser Eigenschaft verdankt der Stein angeblich auch seinen Namen.

Neben der Standard-Raspel, auf einer Seite flach, auf der anderen leicht gerundet, stehen uns natürlich noch weitere Werkzeuge zur Verfügung. Wer größere Stücke absprengen möchte, kann dazu ein Beil benutzen oder einen Fuchsschwanz, um ein Stück des Steins abzusägen. Dazu braucht man schon ein wenig Kraft, aber noch wichtiger ist die Technik, wie man das Werkzeug führt.

Um in den Stein einzudringen, dient ein Meißel und für kleinere Einkerbungen habe ich ein Holzschnitzmesser schätzen gelernt.

Auf die Lust kommt es an

Ich habe nach wie vor keine Ahnung, was aus meinem ersten Stein werden soll, und daher lasse ich mich einfach von Ankes Hinweisen und der natürlichen Form des Steins leiten. Ich versuche mich an konkaven und konvexen Formen, runde ab und feile an Flächen und scharfen Kanten. Was dabei herauskommt, ist mir nicht so wichtig. Es macht einfach Spaß zu erleben, wie sich das Werkstück verändert, eine Mulde entsteht, eine Scharte glattgeschliffen, eine Kante gerade oder eine Rundung gleichmäßig wird.

Und jetzt steh endlich!

Spitz zulaufender Speckstein

Bildbeschreibung: Der rötlich-graue Stein, an dem ich arbeite, ist etwa 20 Zentimeter hoch, 8 Zentimeter breit und an der dicksten Stelle etwa 3 Zentimeter tief. Er läuft oben spitz zu.

Edgars Seehund ist schon sehr weit gediehen, wie ich mit einem kurzen Griff auf seinen Arbeitsplatz feststelle. Der Seehund liegt an mehreren Punkten stabil auf dem Tisch auf.

Bei mir ist das anders. Aus meinem Stein ist aufgrund der ursprünglichen Form ein "Hochformat" geworden — leider mit einer sehr kleinen Standfläche. Mit Raspel und Schleifpapier rücke ich der Grundfläche zu Leibe, aber so ganz plan will sie einfach nicht werden, so sehr ich mir auch Mühe gebe: Der Stein wackelt.

Auf einem ihrer Rundgänge macht Anke bei mir Halt, sieht mir eine Weile zu und zeigt mir schließlich eine Technik, die ich sicher nicht mehr vergessen werde: Sie bringt mir ein größeres Stück grobes Schleifpapier und ich ziehe laut ihren Anweisungen den Stein einige Male fest darüber. Danach kommt die feinere Feile vorsichtig zum Einsatz, mit der ich ein klein wenig aus der Mitte der Standfläche abtrage. Jetzt noch mit dem feinen Schleifpapier darüber polieren, und plötzlich steht der Stein stabil.

Abschlussbesprechung und "Ausstellung"

Anke hat enorme Mühe, uns am letzten Kurstag von unseren Werkstücken und den Werkzeugen zur abschließenden Besprechung wegzulocken. All die vielen von ihr sorgfältig vorbereiteten Informationen über Bildhauerei, Kunstgeschichte, Werktechniken und vieles andere Wissenswerte sind zufolge unserer Arbeitswütigkeit grob vernachlässigt worden oder gar auf der Strecke geblieben. Ankes Bedauern ist nicht zu überhören. "Aber ich hatte nicht das Herz, euren Eifer zu dämpfen", fügt sie dann hinzu. Nichts ist vermutlich für eine Pädagogin schlimmer, als ihr Wissen nicht an den Mann bzw. die Frau bringen zu können. Aber — Anke — nichts erfüllt die lernwilligen Lehrlinge mit so viel Dankbarkeit wie das zu erhalten, weswegen sie gekommen sind. Aus den Rückmeldungen der einzelnen Teilnehmer ist jedenfalls deutlich herauszuhören, wie viel Freude uns allen der Kurs bereitet hat.

Und Anke? Ich möchte wissen, wie es für sie gewesen ist, ausschließlich blinde Lehrlinge zu unterrichten. "Kaum anders als sonst", lautet die überraschende Antwort. "Ich muss ja nur meine Methode an die Erfordernisse anpassen."

Wie sie das macht? Sie erklärt und beschreibt sehr viel und zeigt auch Haltung und Handhabung von Werkzeugen, indem sie unsere Hand führt oder sie lässt uns fühlen, wie sie das Werkzeug hält und am Stein ansetzt. Dabei habe ich erstaunt festgestellt, dass Anke, anders als die meisten Menschen, absolut nicht nervös wird, wenn meine "neugierigen Finger" ganz nah an eine scharfe Klinge oder die Säge herantasten.

14 speckstein-Skulpturen

Bildbeschreibung: In der Ansammlung der großteils abstrakten Skulpturen ist im Zentrum des fünfeckigen Tisches der erwähnte Fisch zu sehen.

Nur ungern räumen wir unsere Arbeitsplätze. Die Werkzeuge werden weggepackt, die über und über mit feinem Staub bedeckten Kleider in Plastiktüten gesteckt und die bearbeiteten Steine ins Foyer des Begegnungszentrums übersiedelt, wo vor dem Mittagessen eine kleine "Ausstellung" stattfindet.

Die echten Hits bei unserem sehr interessierten Publikum sind eindeutig Edgars Seehund und der ebenfalls von ihm erarbeitete Fisch. Die anderen Werke geben dafür Anlass zu allerlei Fragen und Rätselraten, zumal es sich eher um abstrakte Gebilde handelt. Aber gerade sie regen die Phantasie an.

Sieben Tage später

Auf dem Fensterbrett in unserem Arbeitszimmer liegen Feilen und Raspeln unterschiedlicher Größe und Form, ein Schnitzmesser und Schleifpapier mehrerer Stärken sowie neben einer Steinsäge auch etliche Steine. Manchmal nach einem anstrengenden Tag lechze ich geradezu danach, mit der Raspel ans Werk zu gehen; und ein Stück Stein völlig glatt zu polieren, hat durchaus Suchtpotenzial.

Sieben Jahre später

Im Laufe der Zeit habe ich den Steinen doch noch das eine oder andere Objekt entlockt. Ich habe meinen ursprünglich recht dürftigen Werkzeugkasten ergänzt und gesägt, gebohrt, gefeilt, geschliffen und poliert, bis ich mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden war. Dabei stand weniger das Objekt selbst als vielmehr die Bearbeitung des Materials mit den unterschiedlichsten Werkzeugen im Fokus.

Wenn die Schale oder der Kerzenhalter endlich fertig war, erfüllte mich jedes Mal eine Art Bedauern. Etwa jenem Empfinden vergleichbar, das man beim Zuklappen eines soeben beendeten Buches hat, dessen Geschichte einen weiterhin in Bann hält. So wie die Gedanken noch in der Geschichte verweilen und man vor dem nächsten Buch eine Lesepause einlegt, so brauche auch ich zeitlichen Abstand, bevor ich den nächsten Stein hin und her wende um herauszufinden, welche Form darinenthalten sein könnte.

Vielleicht ist es wieder an der Zeit, meinen geschrumpften Steinvorrat zu sichten. Die Werkzeuge sind jedenfalls griffbereit.

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