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Schade, dass uns Erwachsenen die neugierige Wachsamkeit verloren geht, mit der Kinder die Welt erforschen.

Wie geht denn das?

01.02.2010

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Ich taste mit dem Langstock nach rechts und links, um den Durchgang zur U-Bahn zu finden. Dann steuere ich auf das Geräusch der Rolltreppe zu und lege die rechte Hand auf den Handlauf. So kann ich die Fahrtrichtung der Rolltreppe feststellen.

Das alles ist für mich Routine. Für eventuelle Beobachter, die ja nicht wissen, wie ich damit klar komme, aber manchmal mit einer Schrecksekunde verbunden.

... Oder mit echtem Interesse, wenn der Beobachter ein Kind ist. "Wie macht die Frau das mit dem Stock", höre ich eine leise Kinderstimme knapp hinter mir auf der Rolltreppe. Jetzt kommt sicher das unvermeidliche "Psst!", "Später" oder "Darüber reden wir zu Hause" einer verlegenen Mutter, die den Nachwuchs möglichst dezent zum Schweigen bringen möchte.

Aber nein, ich habe mich erfreulicherweise geirrt. "Vermutlich hat sie das gelernt. Aber wie es funktioniert, weiß ich auch nicht", gesteht die Mutter ein und fügt nach einer kurzen Pause zu meiner großen Verwunderung hinzu: "Du kannst sie ja fragen, David."

Schweigen. Der Knirps ist wohl genauso überrascht wie ich. Wahrscheinlich kaut er an seiner Unterlippe, während Unsicherheit und Neugierde um die Vorherrschaft kämpfen.

Ich beschließe nachzuhelfen und drehe mich um. Schließlich begegne ich nicht jeden Tag so interessierten Menschen. "Soll ich es dir zeigen", frage ich, in der Hoffnung, den wissbegierigen Jungen damit nicht einzuschüchtern. Er nickt, was ich allerdings nicht sehen kann. "Du musst etwas sagen. Die Frau kann nicht sehen, wenn du nur nickst." Das "Ja" kommt etwas piepsig, aber es kommt.

Jetzt steht David neben mir. Ich stelle meinen Stock eine Stufe tiefer und erkläre ihm, dass ich so am besten spüren kann, wenn die Rolltreppe unten ankommt. Denn dann werden die Stufen flacher und der Stock höher.

Dann sind wir am Bahnsteig. Ich verkürze meinen Falt-Stock auf eine kindgerechte Länge und frage David, ob er es an der Hand seiner Mutter mit geschlossenen Augen versuchen möchte. Zögernd greift er nach dem Stock, während ich den Sinn der tastbaren Leitlinien auf dem Bahnsteig erläutere. "Wenn ich an diesen Linien mit dem Stock entlang gehe, kann ich sicher sein, nicht auf die Geleise zu fallen. Kannst du die Linien mit dem Stock spüren", will ich wissen. Zuerst schweigt David, dann ruft er plötzlich begeistert: "Hey, cool, das ist ja klasse!" und marschiert los.

An der Hand seiner Mutter geht David mit geschlossenen Augen (vielleicht hat er ja auch ein wenig geblinzelt) ein paar Schritte an den Leitlinien entlang und reicht mir dann den Stock zurück. "Aber da stehen doch immer so viele Leute rum. Ob die wohl alle ausweichen?", meint er nachdenklich und ein wenig zweifelnd. "Manche schon", gebe ich etwas ausweichend zur Antwort und wir verabschieden uns, denn meine U-Bahn fährt ein.

Volltreffer, David! Dein unvoreingenommener Kinderblick hat sofort erkannt, was vielen Erwachsenen entgeht, weil ihre Aufmerksamkeit meist auf Vergangenes oder Zukünftiges gerichtet ist und sie ihre Umwelt nur am Rande wahrnehmen.

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