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Ein ausgefüllter kann gleichzeitig auch ein erfüllter Tag sein.

Ein ausgefüllter Tag

10.12.2010

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Die beiden älteren Damen in der Straßenbahn sprachen so laut, dass ich ihr Gespräch einfach nicht überhören konnte, und als das Wort "blind" fiel, hörte ich naturgemäß bewusst zu. Sie hatten mich wohl beim Einsteigen beobachtet und wie ich mit meinem Stock vorsichtig an eine Sitzbank klopfte, um festzustellen, ob der Platz frei ist. Danach wollte ich eigentlich meinen eigenen Gedanken nachhängen, aber dann warf die eine der beiden die Frage auf, wie ein blinder Mensch den Tag verbringt. Sie waren sich ziemlich einig, dass Blindheit etwas Schreckliches ist und man ja "fast gar nichts mehr" tun könne.

Das ist bei plötzlicher Erblindung sicher so und trifft auf ganz bestimmte alltägliche Abläufe auch später noch zu. Aber dass Menschen im vorgerückten Alter und mit Lebenserfahrung nur wahrzunehmen scheinen, was einem Menschen ohne Sehvermögen alles fehlt und nicht auch das, was er noch hat, gibt mir zu denken und beschäftigt mich seither.

Daher habe ich mich entschlossen, meinen gestrigen Tagesablauf nieder zu schreiben, der weder typisch noch untypisch war. Ich dachte eigentlich, dass ein solches Thema uninteressant ist, aber wer weiß schon, wie viele Menschen ähnlich denken wie die beiden Damen in der Straßenbahn?

9. Dezember

Mein Wecker klingelt an Werktagen um 5.30 Uhr, so auch gestern. Mit dem täglichen Ritual von Morgengymnastik, Badezimmer, frühstücken und der Fahrt ins Büro möchte ich wirklich niemanden langweilen. Beginnen Sie den Tag mit mir also an meinem Arbeitsplatz.

Als ich die Eingangshalle um 7.15 Uhr durchquert hatte und in den Korridor eingebogen war, der zu meinem Büro führt, war mir dank der Geräuschkulisse klar: Die Maler sind gekommen. Papier raschelte über den Boden und jemand wanderte geräuschvoll mit einer Stehleiter umher. Eigentlich waren die Malerarbeiten erst für den kommenden Montag angekündigt, aber offenbar handelt es sich um eine besonders schnelle Truppe.

Alles abdecken, Verputz herunter klopfen und dann ausmalen - das ist bei laufendem Betrieb nicht ganz einfach. Erst recht nicht, wenn ein Teil der Mitarbeiter nicht sehen kann. Mein Büroalltag musste also warten. Zuerst stand Organisation auf dem Plan: Alle Mitarbeiter informieren (wir waren ja auf Montag eingestellt) und mit den Malern sprechen, um sie auf unsere Situation aufmerksam zu machen. Die Arbeiter kennen unser Haus und haben ganz offensichtlich Erfahrung mit den Bedürfnissen blinder Menschen. Sie lassen keine Farbtöpfe irgendwo unbeaufsichtigt stehen, deponieren Werkzeuge nur direkt an der Wand und informieren regelmäßig über den Fortgang der Arbeiten. Wer es nicht sehen kann, möchte schließlich wissen, wo die Farbe noch nicht trocken ist.

Der eigentliche Büroalltag begann daher erst gegen 8 Uhr mit dem Abholen meiner Mails. Das funktioniert auf meinem PC wie üblich, nur dass ich eben den Bildschirm nicht lesen kann. Statt dessen liest mir eine Sprachausgabe die Texte vor und informiert mich auch über Erfolg oder Misserfolg eines eingegebenen Befehls.

Neben allerlei Anfragen befand sich in der Post auch ein Druckauftrag für eine Broschüre in Braille-Schrift und natürlich zahlreiche Listen-Mails aus den verschiedenen Fachgebieten, für die ich mich nun mal interessiere.

Gegen 8.30 Uhr stand ein wenig telefonische Organisation auf dem Plan. Wir sollten eine Maschine bekommen, aber aus Krankheitsgründen musste der Liefertermin verschoben werden, was wiederum Probleme bei der Jahresabrechnung nach sich ziehen würde. Nach etlichen Telefonaten sollte nun doch alles klappen.

Genau genommen hätte ich schon bei Dienstbeginn mit einer wichtigen Korrekturarbeit beginnen sollen, damit der Produktionsprozess nicht verzögert wird. Aber schon nach wenigen gelesenen Seiten gab es die nächste Unterbrechung: Ich hatte ganz vergessen, dass an diesem Donnerstag an dem Vorstellungs-Video für unser Haus weiter gedreht werden sollte. Also hieß es Materialien zusammen suchen, Mitarbeiter instruieren und Termine festlegen, damit niemand allzu lange aus dem Arbeitsprozess herausgerissen wird - das gilt offenbar nur für Mitarbeiter, nicht jedoch für mich als Abteilungsleiterin.

Als ich nämlich wieder in mein Büro zurück kam, wartete bereits wieder Kundschaft auf mich. Erst gegen 11.30 Uhr nach den Dreharbeiten konnte ich meine Korrekturarbeit wieder aufnehmen, allerdings mit dem unguten Gefühl, nicht rechtzeitig fertig zu werden. Länger im Büro zu bleiben, kam jedenfalls nicht in Frage, denn für 16 Uhr war eine Redaktionssitzung anberaumt - erfreulicherweise mit anschließendem gemeinsamem Abendessen.

Auch Korrekturarbeiten mache ich am PC, jedoch nicht mit der Sprachausgabe, denn Rechtschreib- und Tippfehler sind mit einer synthetischen Sprache nicht zuverlässig auffindbar. Zur besseren Kontrolle benutze ich eine Braille-Zeile, welche den Text des Bildschirms in Braille-Schrift wieder gibt.

Ich schaffte mein Korrekturpensum gerade noch rechtzeitig, musste aber andere geplante Arbeiten auf heute verschieben.

Zur Redaktionssitzung kam ich nur ganz wenig zu spät. Auf der Tagesordnung stand diesmal die Diskussion über die Blattlinie unserer Zeitschrift Braille Report, die im nächsten Jahr ein neues Layout bekommen soll - der geeignete Zeitpunkt also, um über Themen, Rubriken sowie Zielsetzungen zu reden.

Im Anschluss durften wir uns dann beim Abendessen im Gasthof zur Remise entspannen, wobei der Übergang von den Sitzungsthemen in private Gespräche immer fließend ist. Wir sind ein sehr heterogenes, aber vielleicht gerade deswegen harmonisches Team. Eine gestellte Aufgabe brachte uns zusammen, die Freude an der Arbeit und Offenheit miteinander verbindet uns jedoch darüber hinaus.

Und weil der gestrige Tag so voll und erfüllt und kein Raum zum Schreiben war, gab es am 9. Dezember auch keinen Eintrag in mein Advent-Tagebuch.

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1 Kommentar

  1. Helene Auroy schrieb am Dienstag, 29.07.14 17:44 Uhr:

    Hallo !
    Ich bin Deutschlehrerin aus Frankreich und habe ganz zufällig Ihren Artikel gefunden und mit viel Interesse gelesen. Vielen Dank !

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