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Dasselbe Ziel, ein anderer Weg.

Von Rastern, Sticheln und Typen

1963 - 1966

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Auch blinde und stark sehbehinderte Kinder müssen neben lesen und schreiben rechnen und zeichnen lernen. Dafür gibt es wieder spezielle Werkzeuge, die ich hier vorstellen möchte.

Umgang mit Zahlen und Operatoren

Es braucht nicht viel Fantasie um sich die Schwierigkeiten auszumalen, die beim Rechnen entstehen, wenn das bereits vorgestellte Werkzeug Tafel und Griffel verwendet wird. Nicht nur, dass beim Schreiben von rechts nach links die Punktmuster seitenverkehrt sind, die Punkte sind auch noch vertieft und nicht erhaben. Die geschriebenen Zahlen werden daher nicht mit den Fingern ertastet, sondern mit dem Schreibwerkzeug, also dem Griffel, der in den Zellen der Schreibtafel nach den Vertiefungen, den gedrückten Punkten suchen muss. Dabei ist es wichtig, mit dem Werkzeug sehr sachte umzugehen, weil ja die Gefahr besteht, weitere Punkte zu drücken, was dann wieder ein ganz anderes und somit falsches Zeichen ergibt. Und dann ist da ja auch noch die Notwendigkeit, korrekt untereinander zu schreiben, etwa bei einer Addition vorne für die nächste Stelle Platz zu laassen.

Eine Wiener Erfindung

Rechenkasten

Genug von dieser grauen Theorie, die Sie getrost wieder vergessen können. Die Pädagogen waren sich der Problematik durchaus bewusst und ersannen ein Hilfsmittel, mit dem einerseits die Schreibrichtung nicht umgekehrt werden musste und andererseits das Ergebnis gleich mit den Fingern abgetastet werden kann.

Dieses Hilfsmittel nennt sich "Wiener Rechenkasten" und basiert auf einem recht einfachen Prinzip: In einen Metallraster werden kleine Plastikstecker mit Zahlen und Operationszeichen gesteckt. Diese Methode erlaubt nicht nur eine einfachere Handhabung, sondern macht auch "Radieren" unnötig. Falsche Ziffern oder Operationszeichen werden einfach herausgenommen und durch die richtigen ersetzt. Mit einem Holzdeckel, der in einen Falz geschoben wird, lässt sich die Rechenaufgabe auch gut "aufbewahren".

Rechenaufgabe

So haben wir in den ersten Jahren unsere Rechen-Hausaufgaben gemacht. Und nicht nur diese, sondern auch Strafaufgaben wie das "Staffelrechnen". Beliebt bei Lehrern, verhasst bei uns Schülern - Streber ausgenommen. Den Beginn einer solchen "Übung" zeigt das Bild. Wie es funktioniert, kann der Bildbeschreibung entnommen werden.

Erst als wir genug Sicherheit hatten, wurde das Rechnen mit Tafel und Griffel auf Papier erlernt und geübt - eine Fingerübung, die mit den heutigen moderneren Methoden nicht mehr nötig ist.

Taschenrechner? Natürlich gab es damals noch keine Taschenrechner. Die ersten Taschenrechner mit sprachausgabe und später auch mit einer Braille-wiedergabe stammen aus den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Gruß aus Asien

Abakus

In den höheren Klassen der Grundschule kam dann ein Rechenwerkzeug zum Einsatz, das vermutlich nur wenigen Menschen aus der Praxis bekannt ist: der Abacus. So wurden etwa bei Schlussrechnungen oder größeren Textaufgaben die Lösungswege schriftlich auf Papier festgehalten, während die Zwischenrechnungen auf dem Abacus gelöst und nur die Ergebnisse schriftlich notiert wurden.

"Radieren" einmal anders

Gerade beim Rechnen auf Papier ist ein Radiergummi unerlässlich. Bei geprägten Punkten verfehlt dieses nützliche Werkzeug aber seine Wirkung. Wir hatten eine ganz andere Methode, Fehler "auszuradieren": Wir nannten es "pflastern". Dabei wurden aus der falschen Zeichenfolge 6-Punkte-Zeichen gemacht, also alle 6 möglichen Punkte des Braille-Rasters geprägt, um die ursprüngliche Zeichenkette unleserlich zu machen = durchzustreichen.

Mit Stichel und Stecknadeln

Wenn vom Zeichnen die Rede ist, so geht es weit mehr als nur um andersartige Werkzeuge. Einen Bleistift zu nehmen und ein Strichmännchen, ein Haus, eine Blume oder einen Halbmond mit Gesicht aufs Papier zu werfen - all das gibt es für blinde Kinder nicht. Dieses "freie Zeichnen" hängt sehr stark mit beobachten, nachahmen, abbilden oder auch karikieren, vor allem aber mit der leichten Benutzbarkeit des Werkzeugs zusammen. Und da die Wahrnehmungswelt eines blinden Kindes so ganz anders beschaffen ist als die visuelle Wahrnehmung, hat das Zeichnen im Unterricht in erster Linie eine geometrische Bedeutung und eine handwerkliche.

Zeichenkissen

Gezeichnet wird auf dem Zeichenkissen, das eine mit Stoff überzogene Schaumstoffauflage hat. Darauf wird ein Blatt Papier mit Stecknadeln fixiert. Die üblichen Hilfswerkzeuge wie Lineal, Reißschiene, Winkelmesser, Geo-Dreick und Zirkel sind natürlich vorhanden, tragen aber kleine Einkerbungen bei jedem Zentimeter und tastbare Markierungspunkte.

Um eine Linie zu zeichnen, werden Anfangs- und Endpunkt mit je einer Stecknadel fixiert und das Lineal angelegt, und zwar mit jener Seite, auf der sich keine einkerbungen befinden. Danach werden mit einem Holzstift mit Nadelspitze, dem Stichel, kleine Punkte so eng wie möglich nebeneinander ins Papier gestochen. Um ein Verrutschen des Lineals zu vermeiden, werden an die Endpunkte einer Linie Stecknadeln gesteckt. So entsteht - wie könnte es anders sein - wieder eine Negativzeichnung, die nur dann zuverlässig kontrolliert werden kann, wenn das Blatt gewendet wird. Man könnte sagen, hier wird wirklich "blind" gezeichnet.

Unsere ersten aufgaben bestanden also darin, möglichst gerade und gleichmäßig punktierte Linien zu zeichnen. Später mussten wir ein 10 mal 10 Zentimeter großes Feld mit horizontalen und vertikalen Linien im Abstand von je einem Zentimeter anfertigen, also ein kariertes Papier, wie es sehende Kinder in jedem Geschäft zu kaufen bekommen. Der Sinn dieser Übung bestand darin, eine möglichst exakte und gleichmäßige Linienführung zu erreichen. Das war für die weiteren aufgaben, etwa den Mantel eines Würfels zu zeichnen, auszuschneiden und zusammenzukleben, eine wichtige Voraussetzung.

Dass bei solchen Bedingungen blinde Menschen für ihre kreativen Neigungen nicht das Zeichnen wählen, ist nur allzu verständlich. Zwar erlauben die inzwischen weiter entwickelten Werkzeuge eine Positivzeichnung und somit eine unmittelbare Kontrolle mit den Fingern. Aber auch noch so geübte Finger ersetzen eben nicht die Augen.

Trotzdem: Ich mochte das Fach Zeichnen dennoch gern. Nicht so sehr als kreativen Ausdruck, sondern vielmehr wegen der handwerklichen Herausforderung. Und wir nutzten für unsere kreativen Neigungen eine einfachere Methode: Wir kreierten aus dem Raster der Braille-Schrift Punktmuster, die zwar keine genaue Linienführung ermöglichten, den gezeichneten Gegenständen aber zumindest ähnelten.

Ein "neues" Schriftsystem

Wie ich in meinem Beitrag Diagnose: Fast blind, und doch bildungsfähig bereits festgehalten habe, bin ich mit der "normalen" Schrift von Kindheit an vertraut gewesen, weil der Test meiner Lesefähigkeit zur Entscheidungsfindung des richtigen Schultyps ohnehin notwendig war.

Einige meiner Klassenkollegen waren aber von Geburt oder vom säuglings- bzw. Kleinkindalter an vollkommen blind und für sie war die Braille-Schrift das erste und bisher einzige Schriftsystem.

Die Braille-Schrift ist zwar für blinde Menschen die optimale Kommunikations-Schrift, aber genauso wichtig ist es, die allgemein genutzte Schrift zu kennen, wenn auch nicht die mit Hand geschriebene "Lateinschrift". Zumindest die Großbuchstaben (= Blockschrift) mussten alle Kinder erlernen. Für mich war das weiter nichts Besonderes, für etliche meiner Schulkameraden aber eine ganz neue Welt. Allerdings war auch das zum Schreiben verwendete Werkzeug für mich neu und ziemlich ungewohnt, denn ich war an Filzstifte gewohnt.

Eine "Stachelschrift"

Als Johann Wilhelm Klein im Jahr 1804 die Wiener Blindenschule gründete, war Louis Braille zwar schon geboren, aber er entwickelte die nach ihm benannte Punktschrift erst einige Jahre danach, nämlich 1825. Um blinde Kinder unterrichten zu können und ihnen eine Möglichkeit zu Notizen zu geben, war es erforderlich, eine tastbare Schrift nicht nur lesen, sondern auch schreiben zu können.

Klein erfand für diesen Zweck den nach ihm benannten Klein-Apparat. Er besteht, ähnlich wie der Wiener Rechenkasten, aus einem Holzkasten, den man zuklappen kann. Links ist die "Schreibfläche" aus Filz, auf die ein Blatt papier gelegt und mit einem Holzrahmen fixiert wird, rechts sind kleine quadratische Vertiefungen, in denen Bleitypen stecken, die an deren Unterseite viele feine zu Buchstaben geformte Nadeln tragen. Werden diese ins Papier gedrückt, entsteht ein geprägtes Zeichen, das allerdings erst gelesen werden kann, wenn das Papier gewendet wird.

Um eine optimale Zeilenführung zu haben, wird eine Holzschiene aufgesetzt, die links und rechts einrastet. Aus welchem Grund auch immer: Die Buchstaben sind "auf den Kopf gestellt", sodass man am unteren Papierrand mit dem Schreiben beginnt. Nach Fertigstellung wird das Blatt "kopfüber" gewendet.

Wir nahmen die Besonderheiten des Schreibens einfach hin: Braille-Schrift von rechts nach links und normale Schrift von oben nach unten. Heute ist mir völlig unklar, wie wir das geschafft haben ohne gänzlich verwirrt zu sein.

Was ich allerdings noch weiß, ist meine Freude über den ersten so mühsam geschriebenen Brief an meine Eltern. Freilich ohne Farbe und nur geprägt, aber das tat meinem Stolz keinen Abbruch. Was ich damals mit 8 Jahren nicht verstand, war der Umstand, dass meine Eltern diesen Brief nie beantwortet haben.

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5 Kommentare

  1. Johannes schrieb am Dienstag, 28.05.13 20:18 Uhr:

    Mit größtem Vergnügen und höchstem Interesse gelesen, sogar mehrmals und alles hab ich mir noch immer nicht gemerkt ... hab ja nicht einen solchen Rechenkasten, aber das hübsche kleine Holzplättchen mit den Metallstiften! Sollt überhaupt mal wieder so einiges wiederholen ;-) Interessant natürlich für mich auch, dass die Braille-Schreibrichtung von rechts nach links lief bei dem Klein-Apparat, gefällt mir!

    Bei diesen Gedanken drängt sich bei mir - naheliegend - auch die Frage auf, wie das ist in Sprachen, in denen es kein Alfabet gibt, hmmm?

  2. Eva schrieb am Mittwoch, 29.05.13 09:04 Uhr:

    Hallo Johanes,
    Schön mal wieder von dir zu lesen!

    Mit den Schriftsystemen ohne Alfabet sprichst du wohl Chinesisch an. :) Nur so viel: Um ein chinesisches Schriftzeichen in 6-Punkt-Braille zu erzeugen, benötigst du 3 Formen, also insgesamt 18 mögliche Punkte - ergibt 2 hoch 18 Darstellungsmöglichkeiten. Ich bin sehr froh, ein Alfabet zu haben.

  3. Fritz schrieb am Mittwoch, 29.05.13 18:51 Uhr:

    Passend zum Artikel ein Youtube Video:
    http://youtu.be/jwabVzlobZI
    Heinz Molter von der Abteilung Informatik des Deutschen MuseumsF in München erklärt, wie die Rechenoperationen Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division mit dem Abakus durchgeführt werden.

  4. Eva schrieb am Mittwoch, 29.05.13 21:45 Uhr:

    Hallo Fritz,
    Vielen Dank für diese wirklich interessante Ergänzung. Welche Dimensionen hat denn der Abakus im Film? Ich frage danach, weil es gar so knallt, wenn er die Kugeln schiebt. Aber vielleicht ist ja nur das Mikro an einem ungünstigen Ort aufgestellt. Die Lektion war jedenfalls sehr interessant.

  5. Fritz schrieb am Donnerstag, 30.05.13 15:35 Uhr:

    Hallo Eva,
    ca. 60 x 60 cm. Der Abakus ist an einer Wand befestigt, die möglicherweise als Resonanzboden dient. Der Vortragende "schmeißt" die Kugeln aber auch wirklich vehement von einer auf die andere Seite. Vielleicht empfindet er den lauten Knall als angemessene Betonung seines Vortrags. :-)

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