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Lernen

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Es ist unrichtig, dass wir ein ganzes Leben lang lernen müssen; die Wahrheit ist, dass wir lernen dürfen.

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Vertrauen in die eigene Lernfähigkeit

November 2010

Es ist nicht mit wenigen Worten gesagt, was man braucht, um auch ohne Sehvermögen den Alltag zu bewältigen und die Lebensqualität zu erhalten oder zu steigern. Am ehesten kann ich es durch ein Erlebnis ausdrücken, das ich meinen Lesern nicht vorenthalten und dieser Rubrik voranstellen möchte.

Vorübergehend blind

"Blind zu sein wäre schrecklich. Ich wüsste nicht, wie ich leben sollte." Das sagte mir eine 74-jährige Dame mit grauem Star unmittelbar vor einer Führung durch die Rauminstallation "Dialog im Dunkeln". Unsicher bat sie mich, sich in meiner Nähe halten zu dürfen, falls sie Angst bekäme. Ich versicherte ihr, dass ich sie binnen weniger Sekunden ans Licht bringen könnte, falls dies nötig sei.

Danach begleitete ich meine Gruppe, bestehend aus acht Personen, für etwa eine Stunde in völliger Dunkelheit durch verschiedene Alltagssituationen. Zuerst in den Wald mit Vogelgezwitscher, anschließend in einen Raum, in dem aus mehreren Lautsprechern Straßenlärm dröhnte und schließlich an die Bar, wo jeder sein Getränk nicht nur "blind" in Empfang nehmen, sondern auch eingießen und letztlich auch bezahlen musste.

Irgendwo unterwegs in einem sehr ruhigen Raum waren zwei Skulpturen aufgestellt: Eine griechische Büste und ein Adler, beide aus Bronze. Ich klopfte mit der Faust gegen die Holzwand, um meine Position anzuzeigen und fragte, wer eine der Skulpturen erkennen könne. Es gab ein Geraune und Gemurmel: "Wo? ... Wo sind Sie? ..." Da ertönte unmittelbar vor mir die Stimme jener Dame, die mich vorher so besorgt angesprochen hatte. "Hier! Sie haben doch gehört, woher die Stimme kommt!" Ich bin nicht sicher, hatte aber den Eindruck, dass in ihrer Stimme ein wenig Ungeduld mitschwang. Und dann tasteten ihre Hände an die Wand, an die ich geklopft hatte, und fanden den Adler. "Das ist ein Vogel", verkündete sie im Brustton der Überzeugung und wandte sich wieder ab, um anderen Platz zu machen.

Während dieser Zeit in absoluter Dunkelheit konnten sich die mir anvertrauten Menschen lediglich auf das verlassen, was ich ihnen erzählte und darauf, was sie mit ihren restlichen vier Sinnen wahrnehmen konnten. Aus nachvollziehbaren Gründen hielten sich alle in meiner Nähe, hörten mir zu, stellten Fragen und kommunizierten auch untereinander ihre Eindrücke und "Entdeckungen". Wir waren eine homogene Gruppe, in der einer auf den anderen achtete.

Als wir wieder in die sonnendurchflutete Halle traten, zerplatzte die Illusion der Zusammengehörigkeit wie eine Seifenblase. Einige verabschiedeten sich, wenn auch eher eilig, andere gingen in Gedanken grußlos davon - vermutlich, um das Erlebnis aufzuarbeiten.

Irgendwie fühlte ich mich auf einmal zurückgelassen und nicht mehr gebraucht und wollte mich gerade abwenden, um die nächste Gruppe abzuholen. Da fassten zwei kleine kühle Hände nach meiner Rechten. Die ältere Dame von vorhin hielt mich fest. "Ich wollte warten, bis alle weg sind", erklärte sie "und danke sagen. Ich hoffe sehr, dass ich mein Augenlicht behalten kann. Aber wenn es anders kommt, dann weiß ich jetzt, dass ich es schaffen kann." Sprach's, drückte mir die Hand und ging davon.

Dieser Erkenntnis habe ich nichts hinzuzufügen.

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