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Erst die Digitalisierung eröffnet blinden Menschen umfassenden und selbstständigen Zugang zu Wort und Schrift.

Von analog zu digital

13.02.2019

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Wir schrieben das Jahr 1978, als ich bei einer Vorführung davon hörte, dass Texte in digitaler Form erfasst und in Braille-Schrift wiedergegeben werden können. Bis dahin musste ich mir Gedrucktes vorlesen oder auf Tonband sprechen lassen. Nun sollte ich von fremder Hilfe unabhängig lesen, kontrollieren und korrigieren können, was ich geschrieben hatte?

Gedrucktes nicht lesen zu können, war für mich immer schon eine der schlimmsten Auswirkungen meiner Blindheit und mein Interesse daher sofort geweckt. Aber ich hatte damals keine Ahnung, welchen Einfluss diese Entwicklung sowohl auf meine beruflichen Möglichkeiten und schließlich auch den privaten Bereich haben würde.

Von der Schreibmaschine zum Textspeichergerät

Ich verdiente seit meinem Berufseintritt 1973 meine Brötchen mit tippen. Meine Werkzeuge waren eine Schreibmaschine und ein Diktiergerät. Tippfehler korrigierte ich mit Tippex (kleine Plättchen mit weißem Staub, um schwarze Buchstaben weiß abzudecken). Wenn ich auf Mittagspause ging, musste ich mir merken, wo genau ich zu schreiben aufgehört hatte.

Das waren die Bedingungen, als ich 1980 von meiner Vollbeschäftigung am Wiener Landesgericht für Strafsachen auf eine Halbtagsbeschäftigung bei einer Großbank wechselte. Grund dieses Wechsels auf Teilzeit war mein Wunsch, die Matura im zweiten Bildungsweg nachzuholen.

Tafel und Griffel

Bildbeschreibung: Metallraster zum Schreiben von Braille-Schrift

Gleichzeitig mit diesem Jobwechsel schrieb ich mich in die Privatschule Dr. Roland ein. Während ich im ersten Jahr meine Notizen im Unterricht in Braille-Schrift von Hand mittels Tafel und Griffel anfertigte, erhielt ich 1981 nach langem Kampf ein Textspeichergerät namens VersaBraille. Es war einem größeren Kofferradio nicht unähnlich (und wog mit 4,5 Kilo auch in etwa so viel) . Neben einigen Bedienungstasten und dem Fach für Compactcassetten verfügte es über eine Braille-Tastatur zur Texteingabe und eine 20-stellige Braille-Zeile zum Lesen des Geschriebenen. Die Speicherung erfolgte ähnlich wie auf Dat-Cassetten.

Textspeichergerät VersaBraille

Bildbeschreibung: Textspeichergerät mit Tastatur für Eingabe in Braille-Schrift, einer 20-stelligen Braille-Zeile zum Lesen sowie links ein Fach für das Speichermedium: eine Compactcassette

Zum ersten Mal war es mir möglich, Texte nicht nur zu schreiben, sondern auch zu kontrollieren, zu korrigieren und sogar auszudrucken. Auf diese Weise entwickelte sich ein reger Informationsaustausch in meiner Klasse: Ich lieferte die ausgedruckten Merktexte zu den Lernfächern, meine Klassenkollegen fertigten im Gegenzug tastbare Zeichnungen für den Mathematikunterricht an.

Vom Textspeicher zum Computer

Sobald ich nach zwei Jahren mein Maturazeugnis in der Tasche hatte, wechselte ich wieder auf Ganztagsbeschäftigung in der Großbank. Zwar musste ich das für den Unterricht zur Verfügung gestellte Textspeichergerät wieder zurückgeben, betrieb aber intensive Bemühungen, ein solches für meinen Arbeitsplatz zu erhalten.

Texte selbst zu schreiben, zu korrigieren und darin nachzulesen, war aber nur die halbe Miete. Als mir 1986 der Techniker einer Hilfsmittelfirma erklärte, man könne solche Geräte sozusagen wie ein Terminal an einen Personal Computer anschließen, horchte ich auf. Terminals waren damals in der Bank sozusagen der Beginn der Vernetzung. Auf diesen Terminals wurden nicht nur Protokolle und andere Schriftstücke erstellt, sondern sie ermöglichten auch Zugriff auf die Großrechenanlage und die dort gespeicherten Daten.

Integration durch Vernetzung

Ich hatte sozusagen Blut geleckt und verbrachte viel Zeit mit Recherchen und Besprechungen. Als ein ungefähres Konzept stand, legte ich dieses meinem Chef vor und bat ihn, die Firma einzuladen, damit diese einen Testzugang zum Großrechner der Bank herstellen konnte, um mein bereits vorhandenes Textspeichergerät anzuschließen. Wir konnten uns zwar nicht wirklich vorstellen, wie das Auslesen der Daten funktionieren und wie ich damit arbeiten sollte. Als aufgeschlossener Vorgesetzter veranlasste er jedoch umgehend ein Treffen, an dem der Techniker besagter Hilfsmittelfirma, meine Gruppenleiterin, ein Mitarbeiter des Rechenzentrums, mein Chef und ich teilnahmen.

An den genauen Ablauf erinnere ich mich nicht mehr, jedoch an meine schweißnassen Hände und mein Herzklopfen. Was, wenn es nicht klappt? Was, wenn der ganze Aufwand umsonst war und ich den Leuten mit meiner Idee nur die Zeit stahl?

Es hat geklappt! Meine Gruppenleiterin betätigte ein paar Tasten und bat mich vorzulesen. Es waren meine eigenen Daten, die ich da las, Name, Personalnummer, Adresse ... Nach der Aufforderung, eine bestimmte Taste zu betätigen, wechselte die Anzeige in den Absenzen-Schirm und ich erhielt eine Liste meiner eingetragenen Urlaube.

Nach wenigen Wochen war mein Arbeitsplatz völlig umgestaltet, ich wurde eingeschult und erhielt eine ganz neue Aufgabe. Plötzlich war ich ein Mitarbeiter mit nahezu denselben Möglichkeiten wie alle anderen, erhielt Aufträge für Recherchen, übernahm Telefonate, um Auskunft zu geben und bemühte mich laufend, meine Kenntnisse zu verbessern. Etliche Jahre war ich fixer Bestandteil des Teams Absenzverwaltung.

Als am Institut die variable Arbeitszeit eingeführt wurde, erfolgte eine totale Umgestaltung der einzelnen Teams. Man bot mir an, in dem neuen Team "variable Arbeitszeit" mitzuarbeiten. Die wichtigsten Voraussetzungen waren ja gegeben: Ich konnte problemlos am Großrechner arbeiten und brachte auch genügend Interesse für das neue Arbeitsgebiet mit. Bis zu meinem Austritt aus der Bank im Jahr 1993 war ich in diesem Bereich tätig.

An dieser Stelle ist ein Dank an meine Vorgesetzten, vor allem meinem Chef und später dem Leiter des Teams "variable Arbeitszeit" angebracht. Sie haben mich nach Kräften gefördert, aber auch gefordert.

Auf der digitalen Autobahn

Der Computer hat mir nicht nur die Tür zu neuen interessanten Arbeitsbereichen geöffnet, sondern auch privat einige Umwälzungen bewirkt.

Von Kindheit an war ich eine Leseratte. Was lag also näher, mir auch privat einen Computer zuzulegen, dazu einen Scanner und ein Programm, um eingescannte Dokumente in reinen Text umzuwandeln. Auf diese Weise wanderten tausende von Seiten über die Glasplatte des Scanners in meinen Computer und von da unter meine Finger. Das Textspeichergerät hatte ausgedient und einer kompletten Arbeitsstation, bestehend aus Computer mit Spezial-Software zum auslesen des Bildschirms mittels Sprachausgabe sowie einer angeschlossenen Braille-Zeile und natürlich besagtem Scanner Platz gemacht. Auch Briefe musste ich mir nicht mehr vorlesen lassen, sondern konnte diese mittels Scanner erfassen, lesen und archivieren sowie beantworten, ausdrucken und versenden.

Da nach und nach auch meine Freunde und Bekannten über einen PC verfügten, war es kein Problem, die schriftliche Kommunikation auf "digitale Beine" zu stellen. Endlich konnte ich lesen, was andere mir per Mail schrieben und ich konnte antworten.

Ich habe viele Generationen von Betriebssystemen kommen und gehen sehen. Manches wurde im Laufe der technischen Weiterentwicklung für blinde Nutzer einfacher, anderes wiederum schwieriger. Denn moderne Technik öffnet nicht nur neue Möglichkeiten, sondern birgt auch eine Reihe von Barrieren. Aber das ist ein anderes Thema.

Bei meinem Wechsel 1993 von der Großbank zur Produktion von Büchern und Zeitschriften in Braille-Schrift am Wiener Blindeninstitut begann dort gerade die Umstellung des gesamten Produktionsablaufes auf computerbasierte Texterstellung, Formatierung und Druck. Zwar war dies ein ganz anderes Arbeitsgebiet, in das ich als Quereinsteiger erst hineinwachsen musste. Meine Vorkenntnisse im EDV-Bereich konnte ich jedoch von Anfang an sinnvoll einbringen.

Es geht noch smarter

Als die Smartphones mit ihren Touch Screens auf den Markt kamen, befürchtete ich von dieser neuen Entwicklung ausgeschlossen zu werden. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie diese Technik für jemanden nutzbar sein sollte, der nicht sehen kann, was auf dem Bildschirm steht.

Apple war der erste Anbieter, der bewies, dass fast überall ein Weg gefunden werden kann, wo der Wille besteht einen zu finden. Inzwischen hat auch der Mitbewerb nachgezogen und Smartphones sind auch von blinden Menschen nutzbar. Das notwendige Programm, um den Bildschirminhalt per Sprachausgabe wiederzugeben muss nicht einmal installiert werden; es ist vorinstalliert und braucht nur noch aktiviert zu werden.

Obwohl das Smartphone seit Jahren genauso selbstverständlich zum Inhalt meiner Handtasche gehört wie Schlüssel oder Geldtasche, birgt der smarte Helfer noch immer einen Rest von Faszination. Gerade für jemanden, der absolut nichts sehen kann, ist es alles andere als selbstverständlich, jederzeit auf beliebige Kommunikationskanäle zugreifen zu können. Ich kann unterwegs Zeitung lesen, Podcasts hören, Verkehrsverbindungen nachschlagen, Radio hören und natürlich das Internet nutzen. Ob Währungsumrechner, Digitalrecorder oder Farberkennung — hinter der Glasplatte verbirgt sich ein umfassender "Werkzeugkasten" für die unterschiedlichsten Anforderungen.

Ach ja: Ich scanne längst meine Lieblingsbücher nicht mehr ein (es sei denn, es gibt sie nur in Papierform), sondern kaufe oder entlehne sie als elektronische Version, die ich dann natürlich auch unterwegs äußerst platzsparend zur Verfügung habe.

Welch eine Entwicklung innerhalb von 40 Jahren!

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