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Fernsehen und Kino gehören auch für blinde Menschen zum ganz normalen Alltag, auch wenn die Wahrnehmung anders ist.

"Fernsehen hören"

März 2008

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Ein Auto bremst, während die einleitende Musik leiser wird. Das Klimpern von Kleingeld ist zu hören, dann wird eine Autotür zugeschlagen und gleichzeitig die Musik ausgeblendet, und das Auto fährt ab. Offenbar regnet es heftig, denn das Fahrzeug verursacht ein starkes Rauschen, als es sich rasch entfernt.

Ich höre eilige Schritte auf dem Asphalt - ein Staccato wie von Damenschuhen mit hohen Absätzen. Die Frau scheint an einem Haustor angelangt zu sein, denn Schlüssel klirren leise. Dann sind plötzlich Straßenlärm und Regenrauschen verstummt; es ist ganz still. Eine Tür wird geöffnet und fällt gleich darauf wieder ins Schloss. Wieder Schritte, nun deutlich langsamer, und der hallige Klang lässt auf ein Treppenhaus schließen. Und richtig: Die Frau steigt eine Treppe hoch und die Schritte verlieren sich in der Ferne ...

Wo ist mein Souffleur?

Es wäre hilfreich, noch ein paar zusätzliche Informationen zu haben - etwa ob meine bisher angestellten Vermutungen einigermaßen stimmen. Außerdem wüsste ich (pure Neugierde) ganz gerne, um welche Art von Frau es sich handelt.

Seit etlichen Jahren werden manche Filme auf einer eigenen Tonspur mit zusätzlichen Informationen für blinde Menschen ( Audiodeskription) versehen und werden so zu Hörfilmen. Der Unterschied ist verblüffend - ähnlich, als würde sich ein dichter Nebel lichten oder ein Vorhang beiseite gezogen werden. Umso bedauerlicher, dass solche Hörfilme zumindest in Österreich äußerst selten sind. Das hier ist jedenfalls kein solcher Film - leider.

Ich wende mich also wieder meinem "Rätsel" zu.

Handlung ohne Worte

Die Frau ist inzwischen an ihrer Wohnungstür angekommen. Neuerlich das Geräusch von Schlüsseln. Gleichzeitig wird eine unheimlich klingende Musik eingeblendet. Vorerst leise, dann etwas lauter, sodass das Öffnen und Schließen der Wohnungstür mehr zu ahnen als zu hören ist.

Irgendetwas wird passieren - muss es ja auch, denn es handelt sich um den Freitagabend-Krimi. Durch die aufdringliche Unheil verkündende Musik kann ich nicht genau hören, was sich abspielt.

Die Frau geht durch die Wohnung - ahnungslos, wie ihre lauten Schritte verraten. (In Fernsehfilmen entledigt sich niemand in der eigenen Wohnung der Schuhe.)

Die Musik wird lauter, drängender; bald überblendet sie alle anderen Geräusche. Und dann ist ein lang gezogener Schrei zu hören, der abrupt abreißt.

Ich mutmaße, dass die Frau einen Toten gefunden hat, denn es war ein Schreckensschrei.

Der erste Dialog

Während mir diese Gedanken durch den Kopf gehen, erfahre ich in der neuen Szene - diesmal bei der Polizei - einige Details. Meine Vermutungen waren in den Grundzügen richtig, wie der Kommissar bestätigt, während er den Löffel aus seiner Kaffeetasse nimmt und ihn auf die Untertasse legt. (Ich könnte wetten, dass er ihn abgeleckt hat.)

Geräusche-Puzzle

Neben Dialogen sind es vor allem die ganz alltäglichen Geräusche, die mir helfen, der Handlung eines Films in groben Zügen auch ohne Audiodeskription zu folgen. Je realistischer diese Geräuschkulisse ist, desto besser. Zu bedenken ist freilich, dass vor allem beim Fernsehen die räumliche Wahrnehmung großteils verloren geht. Moderne Kinosäle mit Dolby surround, wo einem die Klatscher beim Quidditsch förmlich um die Ohren zu fliegen scheinen - wie bei Harry Potters Lieblings-Sportart, sodass man unwillkürlich den Kopf einzieht, üben daher eine gewisse Faszination auf mich aus. Sie vermitteln mir die Illusion, in die Handlung mit einbezogen zu werden.

Aber gerade in Fernsehfilmen werden oft Geräusche einfach nur simuliert; ein Gewitter etwa oder das Rattern eines fahrenden Zugs klingen allzu oft ziemlich unnatürlich. Das empfinde ich als störend, häufig sogar als irritierend. Auch Musik, die nicht zur Handlung gehört, sondern als Untermalung dient, um die Dramatik zu erhöhen, hindert mich gelegentlich ebenso daran, der Handlung zu folgen, wie zu rasche Szenenwechsel oder zu viele handelnde Personen - und natürlich lange dialogfreie Passagen.

Besonders störend empfinde ich aber Anachronismen, also beispielsweise das, wenn auch weit entfernte, Motorengeräusch eines Autos in einem historischen Film, in dem es nur Pferdekutschen geben sollte. Und erst kürzlich habe ich in einem Film, der um die Weihnachtszeit spielt, zweimal hintereinander einen Kuckuck schlagen hören.

Kino im Kopf

Neben modernen akustischen Effekten in Kinosälen verhilft vor allem die bereits erwähnte Audiodeskription zu einem ganz neuen Filmerlebnis. Dabei werden in Dialogpausen Orte, handelnde Personen und wichtige Details der Handlung in knappen Worten beschrieben. Diese Beschreibung wird am 2. Kanal ausgestrahlt wie bei Filmen mit Originalton und Untertitel. Um diese Beschreibungen so knapp wie möglich, aber so ausführlich wie nötig zu gestalten, wird von einem speziell ausgebildeten Team, dem auch eine blinde Person angehört, ein eigenes Drehbuch geschrieben. In der Programmvorschau des Österreichischen Fernsehens sind solche Filme mit dem Vermerk "Hörfilm" versehen. (Näheres finden Sie auf der österreichischen Teletextseite 779.)

Kriminelles Finale

Mein Freitagabend-Krimi ist bald zu Ende. Ich habe auch schon einen Verdacht, wer der Täter sein könnte.

Wieder ein Treppenhaus, wiederum Schritte - diesmal sind es die Schuhe eines Mannes, leiser, gedämpft, fast schleichend - und das ist kein gutes Zeichen. Und dann läutet es an einer Wohnungstür. Diese wird geöffnet und dieselbe Frau wie am Beginn des Films sagt erstaunt: "Du?"

Dann folgt ein Schuss und unmittelbar darauf setzt die Schluss-Musik der Serie ein. Ich werde nie erfahren, wer nun wen erschossen hat und ob mein Verdacht richtig oder falsch war. Denn der Mann hat kein Wort gesprochen und die meisten ausgestrahlten Filme sind eben noch nicht mit Audiodeskription versehen.

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