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Es gibt kein Patentrezept für den Sinn des Lebens, aber Methoden, dem Leben Sinn zu verleihen.

Mein halb volles Glas

September 2010

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Blindheit ist unbestritten eine gravierende Behinderung, die sich auf alle Lebensbereiche auswirkt und eine Reihe von Einschränkungen mit sich bringt. Das beginnt im Kleinkindalter bei Sport und Spiel, setzt sich bei Ausbildung und Berufswahl fort und umfasst Orientierungsprobleme im Straßenverkehr ebenso wie Familie und Freizeitgestaltung. Auch üben die auf Produktivität und Leistung ausgerichteten gesellschaftlichen Wertvorstellungen einen steten und enervierenden Druck auf das Selbstwertgefühl aus.

Ich habe keineswegs die Absicht, die Probleme und Einschränkungen eines Lebens mit Blindheit, mit denen ich von Kindheit an Erfahrung habe, zu bagatellisieren, schönzureden oder gar zu leugnen. Aber es widerstrebt mir auch zutiefst, meine innersten Sehnsüchte vorrangig auf das zu richten, was nicht vorhanden ist. Ich möchte mein Leben bewusst gestalten und konzentriere mich daher auf das, was ich habe und nicht auf das, was mir fehlt, auf die Fülle und nicht den Mangel, aus dem außer Luftschlössern nichts entstehen kann.

Gestalten aber bedeutet flexibel und kreativ sein, sich auf Neues einlassen und den Gegebenheiten anpassen. Ähnlich wie ein Kind, das beim Durchwühlen des Baukastens feststellt, nicht genügend Steine von einer Sorte zu haben, kurzerhand den Plan für das entstehende Bauwerk ändert und ohne Zögern weiter baut, umgestaltet und somit Neues erschafft.

Oder eben wie ein Kind mit schwachen Augen, das auf den Bauplänen nicht erkennen kann, welcher Stein gerade benötigt wird.

Mein Haus ist anders, aber es ist meines

Ich erinnere mich noch genau an meinen ersten Lego-Baukasten: In einem Karton waren rund um eine gelbe Tafel rote und weiße Steine wie in einem Schachbrettmuster angeordnet. Obenauf lag ein Bogen Papier mit Vorlagen für verschiedene Häuser, einen Baukran und noch etliche andere Gebilde, an die ich mich nicht erinnern kann.

Ich versuchte meine "Baumeister-Karriere": nach eingehender Betrachtung der Vorlagen mit einem Haus mit weißen Mauern, einer roten Türe und roten Fenstern, mit einem roten Walmdach und einem rot-weißen Rauchfang zu starten. Aber es wollte mir nicht gelingen, die richtigen Steine zu finden. Ich konnte auf der Vorlage einfach nicht erkennen, welcher Stein in eine Lücke passte und welches Fenster ich benötigte und wo genau ich es einsetzen musste.

Irgendwann schob ich die Bauanleitung beiseite und gestaltete das Haus nach meinen eigenen Vorstellungen. Es sah dem Original nicht mehr allzu ähnlich. Aber ich war der Baumeister dieses Hauses; es war mein Haus und ich war mächtig stolz darauf.

Ich bin dankbar, dass ich mir Spieltrieb, Flexibilität, die Lust Neues zu probieren und eine generelle Neugierde auf das Leben in mein Erwachsenenalter retten konnte. Sei es nun zufolge meiner natürlichen Veranlagung, der Förderung durch meine Eltern, Lehrer und Freunde, durch meine Lust am Leben, meine Hartnäckigkeit oder einfach aufgrund einer Kombination all dieser Komponenten.

Aber damit erschöpft sich mein Werkzeugkasten für die Lebensgestaltung keineswegs.

Ein Gutschein für Bildung

Es ist noch gar nicht so lange her, da zweifelten Pädagogen an der grundsätzlichen Bildungsfähigkeit blinder Menschen. Dass diese "armen Blinden" in früheren Jahrhunderten nahezu ihren Lebensunterhalt ausschließlich erbetteln mussten, sei nur am Rande erwähnt.

Ich hingegen erhielt die meinen Fähigkeiten entsprechende Förderung. Darum konnte ich die Pflichtschule und auch eine Berufsausbildung abschließen. Während die meisten Jugendlichen mit einer Fülle von Informationen über mögliche Berufe überflutet werden und dann erst recht nicht wissen, wohin ihre Neigung geht, konnten blinde Jugendliche in den 1970er Jahren gerade mal aus einer Handvoll Möglichkeiten wählen. Aber ich hatte immer noch die Qual der Wahl und gestehe freimütig, dass keine der damals gebotenen Berufsmöglichkeiten (Masseur, Bürstenmacher, Korbflechter, Telefonist oder Schreibkraft) nach meinem Geschmack war.

Ich entschied mich für eine Bürotätigkeit, sozusagen das kleinste Übel, in der Hoffnung, meinen Wunsch nach persönlicher Gestaltung, beruflicher Weiterentwicklung und Veränderung zu einem späteren Zeitpunkt ausleben zu können.

Ich erhielt diese Möglichkeiten auch, aber sie wurden mir nicht am Serviertablett präsentiert; ich musste sie mir schon durch Nutzung günstiger Umstände erkämpfen, erarbeiten und weiter ausbauen.

Von der Integration zur Inklusion

Mein erster schritt in diese Richtung war der Wunsch, im 2. Bildungsweg die Matura nachzuholen. Die Gelegenheit ergab sich nicht von selbst, aber ich konnte dieses ehrgeizige Vorhaben trotz gravierender Versagensängste erreichen. Durch zielgerichtete Recherchen, viele Gespräche und Erläuterungen meiner Möglichkeiten und Grenzen sowie deutlicher Formulierung meiner Bedürfnisse fand ich offene Ohren und Hilfsbereitschaft sowohl bei Lehrern als auch bei Mitschülern. Die Lehrer waren bereit, ihre Unterrichtsmethoden ein wenig zu adaptieren und dort verbal nachzuhelfen, wo sie üblicherweise nur an die Tafel malten. Meine Mitschüler waren bereit, meine feinsäuberlich getippten Merktexte in den Lerngegenständen gegen tastbare Grafiken im Geometrieunterricht einzutauschen. Und wenn ich wieder einmal davon überzeugt war, es nicht schaffen zu können, erfuhr ich Zuspruch und Nachhilfe von Lehrern wie Mitschülern.

Ich bin für diese Zeit der gelebten Inklusion äußerst dankbar. Die zwei Jahre Maturaschule waren nicht nur einer meiner intensivsten Lebensabschnitte, sondern auch einer der schönsten und gipfelten in der Motivation, es danach neben meiner Vollbeschäftigung in einer Großbank mit einem Studium zu versuchen. Dass ich das Jura-Studium gegen Ende des 1. Studienabschnitts wieder abbrach, lag nicht etwa an den erschwerten Studienbedingungen zufolge meiner Behinderung, sondern war die konsequente Folge meiner Einsicht, dass ich mich zum Juristen nicht eigne.

Vom Beruf zur Berufung

Mein inzwischen beinahe 37-jähriges Berufsleben, mit dem ich niemanden im Detail langweilen möchte, ließe sich am besten als eine Kurve mit vielen Höhen und Tiefen darstellen, von langweilig bis spannend, von deprimierend bis erfüllend.

Neben dem Ziel, die Matura nachzuholen, war es mir von Anfang an ein Anliegen, eines Tages zu jenen statistischen 8 % zu gehören, die Freude an ihrer Arbeit haben. Die Chancen, dieses Ziel zu erreichen, schätzte ich anfangs nicht besonders hoch ein. Als wohl gut ausgebildete Bürokraft, aber mit einem Sehvermögen, das immer mehr gegen null tendierte, fühlte ich mich nicht gerade üppig ausgerüstet, sondern eher wie jemand, der aus den kärglichen Essensresten des vergangenen Wochenendes ein leckeres Mahl für einen unerwarteten Besuch zaubern soll.

Ob ich als beruflich erfolgreich zu bezeichnen bin, kann und mag ich nicht beurteilen. Mein Ziel, Freude an meiner Arbeit zu haben, habe ich jedoch erreicht. Um dahin zu kommen, brauchte es auf der von mir nicht beeinflussbaren Seite Gelegenheiten zur Weiterentwicklung, die ich wiederum möglichst umgehend ergreifen musste. Auf der einen Seite war Offenheit meiner Chefs und Kollegen erforderlich, auf der anderen Seite eine möglichst präzise Artikulation meiner Vorstellungen. Meine unterschiedlichen Dienstgeber mussten sich auf Experimente einlassen, ich hingegen brauchte die Bereitschaft Neues zu lernen und vor allem den Mut, nach einem gescheiterten Experiment nicht aufzugeben, sondern es erneut oder eben etwas anderes zu versuchen.

Sie erinnern sich an meinen Lego-Baukasten? Meine angeborene und im Laufe des Lebens trainierte Hartnäckigkeit und meine Flexibilität - von beidem habe ich reichlich - waren und sind mir eine große Hilfe. Eine sehr nützliche Eigenschaft bei der Lebensgestaltung ist zweifellos auch die Geduld; aber davon habe ich leider nicht allzu viel mitbekommen. Es war und ist nicht meine Stärke, ewig an etwas dranzubleiben, das nicht mittelfristig Erfolg versprechend wäre, was sich schon darin dokumentiert, dass ich nach durchschnittlich zehn Jahren immer meine Dienstgeber gewechselt habe, um neue Herausforderungen anzunehmen und meinem langfristigen Ziel beruflicher Zufriedenheit näher zu kommen.

Anders ist nicht weniger gut

Sowohl im Beruf als auch im Alltag und meinem sozialen Umfeld läuft mein Leben in vielen Teilbereichen anders ab, nämlich angepasst an meine Möglichkeiten. Diese waren nie wirklich unzureichend, wurden aber gerade in den letzten Jahren durch den Einsatz moderner Technik stetig erweitert.

Neben den im modernen Büroalltag unverzichtbaren Programmen zur Texterstellung und -gestaltung oder dem elektronischen Briefwechsel helfen mir Programme zur automatischen Texterkennung auch dabei, einlangende Post ohne fremde Hilfe zu lesen und ein Stück Selbstständigkeit zu erlangen das zu Beginn meiner Berufstätigkeit völlig undenkbar gewesen wäre. Ich kann heute auch, genau wie jeder andere, mit Hilfe einer Sprachausgabe ein Handy nutzen, die Tageszeitung lesen und im Internet recherchieren.

Freilich bedaure ich, nicht von einem Berggipfel aus einen traumhaften Sonnenuntergang oder im Museum die faszinierenden Werke italienischer Maler betrachten zu können. Aber ich kann mir beides beschreiben lassen. Wer sich Urlaubsfotos ansieht, kann doch auch nur durch Einsatz seiner Vorstellungskraft das Rauschen des Meeres hören oder den Duft eines Rosengartens riechen.

Ich glaube nicht, dass ich Anspruch auf Erfüllung all meiner Wünsche habe, und es gibt auch keine allgemein gültige Formel, was genau nun der Sinn des Lebens ist. Mit dem, was ich mitbekommen habe, kann ich aber mein Leben aktiv gestalten und ihm so individuellen Sinn verleihen. Angesichts des vielen Leids auf dieser Welt bin ich sehr dankbar, von Hunger, Verfolgung und Gewalt verschont worden zu sein.

Und darum ist das Glas meines Lebens nicht halb leer, sondern halb voll.

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