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Alltag
Technik ist manchmal eine Gratwanderung zwischen Hilfe und Behinderung.
Grenzgänge
Jänner 2007
Als der Sohn einer Bekannten ihr vorschlägt, sie solle sich doch ein Handy kaufen, um besser erreichbar zu sein, winkt sie genervt ab: "Ich komme mit dem modernen Zeug nicht zurecht", sagt sie.
Inzwischen hat sie doch eines - und ihr Sohn hat sie eingeschult. Meine Bekannte ist Mitte 40 und anpassungsfähig. Ihre Mutter ist nahezu 80; und als ein neuer Fernseher gekauft wird, ist sie nicht mehr in der Lage, die Fernbedienung zu verwenden. "So kleine Knöpfe", klagt sie, "und außerdem ist die Beschriftung so blass."
Sowohl meine Bekannte als auch ihre Mutter haben keine körperlichen oder geistigen Einschränkungen, sind sozusagen ganz "normale Leute".
Technik im Alltag
Wir begegnen in unserem Alltag nahezu auf Schritt und Tritt irgend welchen technischen Finessen. An viele haben wir uns gewöhnt und sie sind längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Dazu gehören beispielsweise die Drucktasten in einem Aufzug oder die Türöffner unserer öffentlichen Transportmittel ebenso wie das nicht mehr wegzudenkende Telefon oder ein Radio oder Fernsehgerät.
Was aber, wenn wir nicht ganz so fit sind, unsere Hände zu zittern beginnen, Sehkraft, Konzentration und Reaktionsfähigkeit nachlassen? Und was, wenn jemand irgendeine darüber hinaus gehende Einschränkung hat, wie etwa eine starke Sehbehinderung?
Technik als Falle
Das, was uns das Leben so angenehm und bequem macht, kann ganz schnell ins Gegenteil umschlagen, uns hilflos machen oder gar zur Falle werden. Manchen dieser "Fallen" kann man aus dem Weg gehen, aber bei weitem nicht allen. Ich muss nicht unbedingt einen komplizierten Videorekorder programmieren oder mit einem Handy im Internet surfen, aber meine Waschmaschine möchte ich doch ohne Hilfe bedienen können, und auch die Senderwahl auf meiner Stereoanlage ist mir ein Anliegen. Auch der Vision von der über Internet gesteuerten Kaffeemaschine sehe ich mit gemischten Gefühlen entgegen.
Sie finden, das ist reine Utopie? Ich bin mir da nicht so sicher.
Ich erzähle Ihnen einfach ein paar Beispiele aus dem Alltag und dann urteilen Sie selbst, ob ich nur den Teufel an die Wand male oder ob Ihnen nicht auch ein wenig mulmig wird, wenn Sie an spätere Jahre denken und daran, dass Sie vielleicht die einfachsten täglichen Verrichtungen nicht mehr alleine bewältigen können.
Ein Neffe sucht für seine bejahrte Tante einen Kassettenrekorder mit möglichst großen Tasten, die auch noch einen guten Hub haben sollen, denn die Tante sieht etwas schlecht, und ihre von Gicht beeinträchtigten Finger haben Mühe die kleinen Tasten zu treffen.
Nahezu 14 Tage hat der Neffe gesucht, bis er ein Gerät gefunden hat, das diesen simplen Anforderungen gerecht wird.
Die Waschmaschine ist kaputt gegangen und soll ersetzt werden. Nahezu alle Modelle sind über Menüwahl zu bedienen. Das heißt, man drückt eine Menütaste, danach erscheint auf dem Display der erste Menüpunkt, und mit einer weiteren Taste muss die gewünschte Auswahl getroffen werden.
Wer das Display nicht lesen kann, hat ein Problem - und dazu muss man keineswegs hochgradig sehbehindert oder blind sein, eine verlegte Brille hat vielleicht denselben Effekt. Und außerdem verschwindet das Menü wie von Geisterhand, wenn man sich bei der Auswahl zu viel Zeit lässt.
Denken Sie weiters an die Fahrkatenautomaten mit den klein geschriebenen Instruktionen (mehr Platz ist nun mal nicht auf dem Gerät) und den vielen Knöpfen.
Hand aufs Herz: Wissen Sie immer, ob Sie tatsächlich den richtigen Fahrschein gelöst haben, wenn es sich um eine Strecke handelt, die Sie nicht täglich fahren? Oder haben Sie nicht schon selber einem ratlos vor dem Automaten stehenden Fahrgast bei der richtigen Auswahl geholfen - oder sich gar selbst helfen lassen?
Ist Ihnen das auch schon passiert, dass Sie vor mehreren Aufzügen stehen, den Rufknopf betätigen und dann, wenn gerade der letzte Aufzug in der Reihe kommt, nicht rasch genug hinkommen, die Türe vor Ihrer Nase zugeht und Sie auf den nächsten Aufzug warten müssen. Vielleicht kommt dann wieder derjenige, der am weitesten entfernt ist, aber mit viel Glück hält für Sie ja auch ein freundlicher Zeitgenosse die Tür offen.
Die Geister, die wir riefen ...
Das sind alles Widrigkeiten, mit denen man sich im Zeitalter der Technik eben abfinden muss. Aber was, wenn Sie in einem fremden Haus "gefangen" sind, weil Sie den elektrischen Türöffner beim besten Willen nicht finden oder nicht erreichen können? Was, wenn Sie aus purer Unvorsichtigkeit einen unbekannten Knopf auf Ihrem neuen Herd betätigt haben und sich das Backrohr plötzlich nicht mehr ausschalten lässt?
Dieses Szenario erinnert stark an Goethes "Zauberlehrling", der den Besen mit den vielen Wassereimern auch nicht mehr abstellen konnte und beinahe ertrunken wäre, wenn ihn der Meister nicht gerettet hätte.
Manchmal habe ich die unangenehme Vision, dass auch wir die Geister, die wir riefen, nicht mehr los werden.
Segen und Fluch
Ich will keineswegs den Eindruck erwecken, dass unsere technischen Errungenschaften unnütz oder fragwürdig seien. Ich selbst bin eine eifrige Nutzerin dieser Technologien. Ich kann, obwohl von Geburt an schwer sehbehindert und seit vielen Jahren völlig blind, dennoch auf einem Computer arbeiten, kann damit Zeitung lesen und Briefe schreiben, Bankgeschäfte erledigen oder online einkaufen. Ich freue mich, wenn die Wiener Linien und andere Institutionen in ihren Aufzügen Sprachchips einbauen, damit ich weiß, wo ich mich befinde und ich bin eine begeisterte Nutzerin auch von modernen Hifi-Geräten.
Blick in die Zukunft
Und dennoch: Ich kann mir aus heutiger Sicht nicht sicher sein, dass ich meine Kaffeemaschine in zehn Jahren noch selbstständig bedienen können werde.
Und wenn es an unseren Bahnhöfen keine freundlichen Beamten, sondern nur noch Automaten geben wird, wie komme ich dann an meine Fahrkarte, wenn ich sie auch nicht via Internet bestellen kann, weil die Seite nicht barrierefrei ist?
Gute Fragen, nicht wahr? Und sie lassen sich keineswegs einfach beantworten oder vom Tisch wischen.
Design for all
Dennoch bin ich der Ansicht, dass nahezu all diese Probleme nicht sein müssten oder zumindest relativ einfach gelöst werden könnten, wenn die Designer technischer Equipments als Zielgruppe nicht nur die jungen und top-fitten Verbraucher im Auge hätten, sondern auch jene, die im Grunde genommen auch die größere Kaufkraft haben: Nämlich diejenigen, die auf das Pensionsalter zugehen - und häufig auch die technischen Spielereien ihrer jühngeren Verwandten (mit)finanzieren.
Die nächsten Jahre werden zeigen, ob moderne Techniken bestehende Probleme lösen oder eher neue schaffen werden. Es wird sich herausstellen, ob Entwickler und Designer den Herausforderungen der geänderten Gesellschaftsstruktur gerecht werden können, um mit ihren durchaus hilfreichen Errungenschaften niemanden auszugrenzen. Vielmehr könnte durch klugen und vorausschauenden Einsatz modernster Technologien ein hohes Maß an Selbstständigkeit und damit an Lebensqualität bis ins hohe Alter bewahrt und selbst bei schwerer Behinderung ermöglicht werden.
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