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Alltag
Der Stein des Anstoßes ist auch ein Prüfstein für das eigene Handeln.
Segen und Fluch erfolgreicher Kompensation
Juli 2012
Stellen Sie sich vor, Sie sind Rechtshänder und Ihre Rechte ist zufolge eines Missgeschicks ruhig gestellt und somit nicht einsatzfähig. Schlimm, nicht wahr? Vor allem die ersten Tage, an denen nicht einmal die einfachsten Handgriffe der Körperpflege gelingen wollen.
Aber schon nach wenigen tagen entwickeln Sie Ersatztechniken, benutzen verstärkt die andere Hand, manchmal auch die Zähne, um etwas festzuhalten. Sie lernen auszugleichen und vieles zu kompensieren.
Training von Kindheit an
Vom Kleinkindalter an an eine starke Sehbehinderung gewöhnt, habe ich sehr früh gelernt, mich auf andere Sinne zu verlassen, ohne dass mich jemand dazu aufgefordert hätte. Lag ein Gegenstand auf dem Tisch, den ich nicht erkennen konnte, so nahm ich ihn einfach in die Hand. Konnte ich wegen des starken Sonnenlichts Spielkarten nicht erkennen, verkroch ich mich in eine dunkle Ecke.
Eine Behinderung lässt sich zwar noch weniger als eine gebrochene Hand vollständig kompensieren, aber in vielen Lebensbereichen lassen sich "Ersatztechniken" einsetzen, die zu einem ziemlich befriedigenden Ergebnis führen. Wir selbst, oft aber auch die Menschen, mit denen wir täglich zu tun haben, vergessen sogar manchmal für kurze Zeit die gegebenen Einschränkungen. Vielleicht hat ja Ihr Ehepartner vergessen, den Verschluss der Mineralwasserflasche zu lockern, weil er bereits daran gewöhnt war, dass Sie trotz Gipshand schon Flaschen geöffnet haben?
Täglich neue Herausforderungen
Für die meisten Menschen ergibt sich zum Glück nur selten die Notwendigkeit langfristiger und intensiver Kompensation. Leben mit Behinderung bedeutet jedoch, nahezu ständig neue Kompensationsmöglichkeiten für neue Situationen finden und trainieren zu müssen. Das Ergebnis löst dann bei manchen weniger trainierten Zeitgenossen allzu viel Bewunderung aus. Vielleicht haben Sie auch schon einmal gedacht: Das könnte ich nicht, wenn Ihnen jemand erzählt, an einem Marathon-Lauf teilgenommen zu haben.
Auch ich bleibe von neu entdeckten und erlernten Techniken emotional nicht unberührt: Ich freue mich über jede Überwindung eines scheinbar unüberwindlichen Hindernisses und nehme neue Herausforderungen schon aus Gründen der psychischen Hygiene meist nicht als Stolperstein, sondern als sportliche Herausforderung an. Je mehr Übung ich in diesen Techniken zur Kompensation bekomme, desto höher schiebe ich meine Grenzen. Ähnlich wie ein Spitzensportler, der Leistungen erbringt, die man von Menschen, die bloß Gesundheitssport betreiben, niemals erwarten würde.
Die "kompensierte" Schrift
Die bedeutendste Kompensation ist für mich auf jeden Fall mein Schriftsystem: die Braille-Schrift aus sechs Punkten. An sie denke ich, wenn ich "lesen" sage, während die meisten Menschen bei diesem Wort an schwarze Zeichen auf weißem Papier denken - die jüngere Generation vielleicht mehr an Bildschirme. Die Braille-Schrift ist wegen ihres Umfangs noch eine sehr schlechte Kompensation der ursprünglichen Leseunfähigkeit. Denn um einen Duden mitzunehmen, bräuchte ich eine Spedition.
Wesentlich besser funktioniert diese Kompensation auf elektronischem Weg, wo der Umfang schriftlicher Dokumente nicht in Volumen, sondern in Bytes gemessen wird. Es macht keinen Unterschied, ob ein Text in kleinen oder stark vergrößerten Buchstaben auf dem Bildschirm oder gar in Punktmustern auf einer Braille-Zeile gelesen wird.
Erstaunlich gute "Krücken"
Durch die Digitalisierung und den Einsatz zusätzlicher Hard- und Software kann ich als inzwischen völlig erblindeter Mensch meine "Leseblindheit" zu einem guten Teil ausgleichen. Ob auf einem herkömmlichen Windows-PC oder auf dem iPhone - ich fühle mich gut ausgerüstet und fit.
Und ich setze mich wieder einmal über scheinbar natürliche Grenzen hinweg.
- Fünf unbeschriftete grafische Links? Na gut, ich klicke eben jeden an, notiere mir, was sich dahinter verbirgt und versuche es mir zu merken. (Man kann ja jederzeit nachlesen.)
- Drei dubiose Knöpfe auf dem Formular zum Einkaufen? Try and Error ist mein Freund - auch wenn ich dabei den Warenkorb irrtümlich leere und ganz von vorne beginnen muss. (So etwas merkt man sich sicher für später.)
- Beim Klick tut sich nichts? Na gut, da wird wieder einmal eine Technik verwendet worden sein, mit der mein Screen Reader nicht klar kommt. Mal sehen, ob sich in meiner stets wachsenden Trickkiste nicht doch eine Möglichkeit findet, ans Ziel zu kommen. (Da kann ich wieder neue Erfahrungen sammeln und etwas dazu lernen.)
Na also - geht doch! Oder? - Nein? Geht doch nicht? Dann eben einen anderen Weg suchen - oder ein anderes Programm nutzen ...
Und wenn ich es schaffe? Dann überwiegt die Freude über die geknackte Nuss all die verschwendete Zeit und den Ärger. Genau wie bei jemandem, der endlich den Gips los ist und die ersten therapeutischen Übungen macht, um zurück zur Normalität zu finden. Oder auch wie der Sportler, der seine eigene Zeit wieder einmal unterboten hat.
Erfolgreich kompensiert - Chance vertan?
So kämpfe ich mich mit vielen Erfolgen, aber ebenso vielen Misserfolgen durchs digitale Leben und versuche das Beste daraus zu machen. Ich überwinde Stolpersteine, die mir andere gedankenlos, unwissend und leider oft auch ignorant in den Weg legen. Trickse das Produkt schlampiger Programmierung aus, ähnlich wie ein Hacker, der endlich das Sicherheitsloch gefunden hat und teile mein Wissen mit anderen, die in ähnliche Fallen getappt sind wie ich.
Und die Verursacher so mancher Stolpersteine? Was ist mit den Programmierern, die trotz eindeutiger Bestimmungen zum Thema Zugänglichkeit für alle die Richtlinien einfach Richtlinien sein lassen und sich erst gar nicht darum kümmern? Natürlich nicht aus Bosheit, eher aus Unwissenheit oder weil sie den Weg des geringsten Widerstands gehen (müssen). Ohne mich zu diesem Thema verbreitern zu wollen, möchte ich einige Argumente (nein, nicht Ausreden!) auflisten, die ich zu hören bekommen habe und die ich gar nicht entkräften möchte.
- Auftraggeber: Wir haben niemanden in unserem Betrieb, der einen Screen Reader verwendet. Die Notwendigkeit unser Intranet zugänglich zu machen, hat sich noch nicht gestellt.
- Agentur: Wir haben leider keine Erfahrung mit Barrierefreiheit, weil sie von Auftraggebern noch nie verlangt wurde.
- Behindertenvertretung: Wir haben unseren Webauftritt auf unsere Zielgruppe optimiert und wussten nicht, dass die Seiten damit für andere Gruppen nicht oder schlecht zugänglich sind.
Der einsame Sieg
Menschen mit Behinderung haben, so scheint es, zufolge langjährigen Trainings ein hohes Kompensationspotenzial und lernen mit den größten Widrigkeiten irgendwie klar zu kommen. Die Gefahr ist groß Hürden gar nicht mehr richtig wahrzunehmen, weil man längst gelernt hat, die Klippen zu umschiffen. Aber es ist ein einsamer Kampf mit einsamen Erfolgen, von denen nicht viele profitieren können - am wenigsten die Verursacher dieser Hürden.
Es ist schön sagen zu können: Ich habe es geschafft! Aber dieser Sieg über sich selbst und über Probleme, die an anderen Stellen und bei anderen Menschen immer wieder auftreten, ist ein sehr egoistischer Sieg, an dem man sich kurz freuen kann, der aber keinerlei Nachhaltigkeit hat, vom Wachstum der eigenen Trickkiste einmal abgesehen.
Ein neuer Anlauf
Darum nehme ich mir vor, künftig überall dort aktiv zu werden, wo ich eine noch so geringe Chance auf Erfolg sehe (oder mir einbilde). Sobald ich die recht anspruchsvolle erforderliche Detektivarbeit erledigt habe, den richtigen Ansprechpartner zu finden, informiere ich die Verantwortlichen der App Passagierrechte für Menschen mit Behinderung aus Sicht eines Benutzers. Damit sie wenigstens in Zukunft wissen, was sie tun, wenn sie schon nicht wissen, was sie getan haben.
2 Kommentare
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Ich behalte mir vor, Einträge wider die guten Sitten oder den guten Geschmack zu entfernen, möchte meine Leser jedoch ausdrücklich zu themenbezogenen Kommentaren oder Fragen ermutigen.
Anne-Greta Schricker schrieb am Donnerstag, 10.01.13 23:10 Uhr:
Sehr gut beschrieben!
Hoffentlich lesen es auch genug.
Oiche.Chiun schrieb am Dienstag, 28.03.17 19:40 Uhr:
Was für ein genialer Beitrag, mir als Betroffene aus der Seele geschrieben.