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Alltag
Mit der Kombination gute Recherche, meinem Langstock, etwas Eigeninitiative und einem Hilfeangebot für Notfälle fühle ich mich auch auf schwierigen Wegen sicher.
Ein Haus wie ein Labyrinth
August 2009
Ich muss zu einer Spezialuntersuchung in ein Institut, das ich nicht kenne, und zwar allein. Die Adresse steht auf der Überweisung. Wie ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin komme, weiß ich in etwa, aber das Auffinden des Eingangs bedarf einer zusätzlichen Recherche.
Aus dem Online-Telefonbuch besorge ich mir daher die Telefonnummer, um den Termin zu vereinbaren, aber auch, um nähere Informationen einzuholen. Denn ich kann weder Straßenschilder noch Anschlagtafeln oder Hausnummern lesen. Ich benötige daher Details, wie ich das Haustor finden und mich im Haus selbst zurechtfinden kann.
Herausforderung: Verbale Wegbeschreibung
Bei meinem Telefonat informiere ich meine Gesprächspartnerin gleich zu Beginn, dass ich blind bin und daher mehr als die bloße Adresse benötige. Verbale Wegbeschreibungen sind für viele Menschen eine echte Herausforderung, weil sie meist Informationen wie "bei der grünen Reklametafel", "nach der blauen Türe" usw. in ihre Beschreibungen einflechten, die ich ohne sehende Begleitung nicht auswerten kann.
Das Auffinden der Eingangstüre dürfte nicht allzu schwer sein. Ich erfahre, dass es sich um den 2. Hauseingang mit einer Doppelflügeltüre zu einem alten Gebäude handelt. Danach könnte es allerdings kompliziert werden.
Ich muss eine Einfahrt durchqueren und den anschließenden Hof. Auf der linken Seite des Hofs befindet sich der Eingang zum Röntgeninstitut. Danach wird die Beschreibung etwas konfus, was weniger an den kommunikativen Fähigkeiten meiner Gesprächspartnerin, als eher an den örtlichen Gegebenheiten liegen dürfte, aber auch an der ungewohnten Aufgabe, einen Weg ohne optische Hilfen beschreiben zu müssen. Ich bin jedenfalls gewarnt und empfinde das freundliche Angebot meiner Gesprächspartnerin als echte Erleichterung, bei Bedarf vom Handy aus anzurufen, falls ich mich im Haus nicht zurechtfinden sollte. Die Kombination freundliches Menschenwesen und moderne Technik ist ein echter Segen!
Die realen Gegebenheiten
Wie erwartet, finde und erkenne ich sowohl das Haustor als auch den Durchgang anhand der Beschreibung, auch wenn sich mitten im Gang ein abgestellter Container befindet, den mir mein Stock rechtzeitig meldet.
Das Auffinden der Türe auf der linken Hofseite gestaltet sich aufgrund der dort vorhandenen Botanik schon schwieriger: Äste, die mir nicht nur um den Kopf streichen, sondern deren Dichte auch mein Hörvermögen beeinträchtigt. Aber schließlich finde ich einen Durchschlupf nach links und die Türe.
Eine Kulisse für Alfred Hitchcock
Die Türe knarrt in den Angeln und fällt hinter mir dumpf ins Schloss. Ich verharre einen Augenblick, lausche auf Geräusche, die mir einen Rückschluss auf den weiteren Weg geben könnten, aber da ist nichts als Stille. Wie in einer Gruft oder in einem Hitchcock-Film, muss ich unwillkürlich denken und schreite dann mutig voran, um das Terrain zu erkunden.
Die Sprechstundenhilfe hat etwas von Differenzstufen gesagt, wusste aber nicht mehr, ob diese in gerader Richtung oder bereits in einem Seitengang sind. (Schon interessant, dass Menschen Tag für Tag einen Weg mindestens zweimal gehen und solche Details doch nicht beschreiben können, weil sie ja nie darauf achten müssen.)
Nach wenigen Metern treffe ich auf Stufen, aber es stellt sich rasch heraus, dass es sich nicht nur um ein paar Differenzstufen, sondern um einen richtigen Treppenaufgang handelt, den ich aber laut Beschreibung "links liegen" lassen soll. Also zurück nach unten.
Endlich finde ich rechts neben der Treppe einen schmalen Durchgang mit einer offenen Tür, passiere diese und befinde mich nun in einem weiteren Gang, der nach wenigen Metern endet. Aber rechts von mir höre ich keine Wand; hier scheint es um die Ecke zu gehen. Und da sind auch fünf Stufen. Ich dürfte also den richtigen Weg gefunden haben.
Die nächste Aufgabe besteht darin, das Treppenhaus zu finden. Dieses ist, wie ich telefonisch erfragen konnte, jedoch hinter einer weiteren Türe verborgen. In einem fremden Haus an Türen zu probieren, verursacht mir etwas Unbehagen, auch wenn sie verschlossen sein sollten. Mir bleibt jedoch nichts anderes übrig, als die Türen zu untersuchen. Als Anhaltspunkt habe ich die Information, dass sich der Aufgang auf der linken Seite befindet, also brauche ich rechts nicht zu suchen.
Die erste Tür hat keine Türklinke, sondern einen Knauf. Ich scheide sie also aus und gehe weiter. Die nächste Tür hat eine Klinke. Zaghaft drücke ich sie hinunter. die Türe öffnet sich nach innen, aber anhand des Geruchs weiß ich sofort, wo ich gelandet bin: im Raum mit den Müllcontainern. Wer hier den Müll entsorgen muss, hat einen weiten und unbequemen Weg.
Danach gibt es links bis zum Ende des Ganges keine weitere Türe - Fehlanzeige.
Ratlos bleibe ich stehen, und krame in meiner Handtasche nach dem Handy. Expeditionen sind ja interessant, aber ...
Da höre ich weit entfernt ein Geräusch. Es klingt wie klappernde Absätze auf einer Treppe. Regungslos lausche ich. Und dann wird es mir klar: Zielsicher gehe ich auf die Stirnseite des Ganges zu, öffne die Türe und befinde mich endlich im Treppenhaus, das an der hallenden Akustik und der Höhe, aus der die Absätze näher kommen, unverwechselbar ist. Die Treppe ist, dem Geräusch nach zu schließen, tatsächlich links, aber die Türe zum Treppenhaus, vom Gang aus gesehen, eben geradeaus.
Jetzt in den 2. Stock zu gelangen, ist kein Problem, wobei ich bedenken muss, dass solche Bauten ein so genanntes Mezzanin, also einen Zwischenstock haben. Es sind insgesamt daher drei Stockwerke zu erklimmen.
Ein wenig Neugierde schadet nicht
Ich liebe diese weitläufigen Treppenhäuser mit der hallenden Akustik, den flachen und bequemen Stufen und den breiten Treppenabsätzen. Am schönsten finde ich die oft reichlich verzierten Treppengeländer, und auch wenn sie meist monatelang nicht entstaubt werden, kann ich doch nicht an mich halten und muss sie, wenn ich mich unbeobachtet glaube, unbedingt untersuchen. Das polierte Holz des Geländers, die verschnörkelten schmiedeeisernen Gitter mit Blättern und Ranken trifft man nicht mehr oft originalgetreu an.
Ich warte mit meiner "Besichtigung" also, bis die Person mit den klappernden Absätzen an mir vorbeigegangen ist, biege um die nächste Ecke, fasse ans Geländer - und stelle enttäuscht fest, dass ich offenbar nur moderne lackierte Metallstäbe unter den Fingern habe. Nur die abgerundete, glatte Abdeckung aus Holz mit den vielen kleinen Schrammen scheint noch original zu sein. Wie schade!
Letzte Etappe
Im 2. Stock angelangt, habe ich keine Mühe, mich genau an die verbale Beschreibung zu halten. Die Eingangstüre ist rechts vom Treppenabsatz, die Glocke links daneben. Ich klingle, ein Summer ertönt und ich trete in einen relativ großen und hohen Vorraum, wie er in alten Häusern oft zu finden ist. Das Pult für die Anmeldung kann ich leicht ausmachen, denn eine weibliche Stimme, die ich vom Telefon zu kennen glaube, sagt soeben: "Hier ist Ihre e-Card." - Ich bin angekommen!
Nach etwas mehr als einer halben Stunde ist die Untersuchung vorüber und ich mache mich auf den Rückweg, ohne mich in "Hitchcocks Reich" zu verirren. Immerhin habe ich die Wartezeit genutzt, um den Weg durch das Haus im Geiste nochmals Revue passieren zu lassen, gefolgt von dem Versuch, mir die Route in umgekehrter Richtung vorzustellen.
Als ich im Zwischengang, wo sich - nun auf der rechten Seite - der Raum mit den Müll-Containern befindet, mit meinem Langstock die Differenzstufen suche, höre ich ein leises Knistern. Es kommt von dem Papier in meiner Jackentasche, das mir erfreulicherweise schwarz auf weiß einen "dem Lebensalter entsprechenden normalen Befund" bescheinigt.
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