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Alltag
Auch ärgerliche Pannen haben ihr Gutes.
Wer braucht schon das Internet? ...
Mai 2006
Der Samstag dämmert herauf und nach einem herzhaften Gähnen springe ich aus dem Bett - deutlich früher als an anderen Samstagen. Denn heute bin ich allein zu Hause, und dieser Tag ist daher wie geschaffen dafür, den inzwischen beängstigend hohen Berg an Arbeiten endlich abzutragen oder zumindest zu reduzieren. Nicht, dass ich die Arbeiten bewusst gesammelt hätte - nein, es ist vielmehr so, dass er sich so nach und nach wie von selbst aufgetürmt hat.
Schön, ich gebe ja zu, dass ich gelegentlich erstaunt wie ein unbeteiligter Zaungast und dennoch mit etwas Sorge diesem Wachstum tatenlos zugesehen habe ohne etwas dagegen unternommen zu haben.
Mit Elan ans Werk
Aber heute ist es so weit: Das Mittagessen lasse ich ausfallen. Bewegung? Höchstens um ein wenig aufzuräumen oder den Flüssigkeitshaushalt in Ordnung zu halten. Frischluft? In unregelmäßigen Abständen durch das geöffnete Fenster, um das Denken und meine Tatkraft anzukurbeln.
Nach dem etwas kürzer gehaltenen Frühstück starte ich also durch und daher meinen Computer und nehme mir zu Beginn das Konzept für meinen Vortrag an der Fachhochschule vor. Es ist im letzten Jahr entstanden, muss aber wegen des geänderten Zeitrahmens gestrafft und mangels Zeit für praktische Übungen mit einigen Links ergänzt werden, die ich recherchieren will.
Wer steht auf der Leitung?
Nach dem Öffnen des Browsers und dem Klick auf meine erste Recherche-Adresse informiert mich meine Sprachausgabe: "Server nicht gefunden". Verflixt! Wahrscheinlich habe ich wieder einmal wie eine Verrückte und viel zu rasch auf die Tastatur eingehämmert und mich vertippt. Aber auch nach sorgfältiger Kontrolle der nochmals eingegebenen Adresse bleibt das unerfreuliche Ergebnis dasselbe.
Na gut, denke ich mir, es soll ja vorkommen, dass eine Seite offline ist, das war peinlicherweise auch bei meiner eigenen schon der Fall.
Als ich es mit Google versuche, um mir andere Quellen zu erschließen, beschleicht mich zum ersten Mal ein unbehagliches Gefühl, denn auch der zuverlässige Partner aller Suchenden im Web ist nicht verfügbar.
Auf "Tauchstation"
Missmutig mache ich mich auf die Suche nach der Ursache: Liegt es am Router, an der Telefonleitung oder beim Provider? Ist irgendein Kabel locker oder gar herausgefallen? Verbindungssymbol gibt es jedenfalls keines.
Bildbeschreibung: Mein unaufgeräumter Schreibtisch mit allen möglichen Hilfsmitteln wie Tastatur, Braillelzeile, Kopfhörer, Handy, Notizgerät etc. in perfekter Unordnung.
Eingedenk guter Ratschläge beginne ich die Fehlersuche systematisch beim Endgerät, denn an einem Ende muss man schließlich beginnen. Also gehe ich seufzend auf Tauchstation, Krabble unter den Schreibtisch, verfolge Kabel für Kabel und - wie könnte es anders sein - knalle beim unvorsichtigen Auftauchen mit dem Hinterkopf gegen die Kabelaufhängung auf der Unterseite der Tischplatte. Natürlich erwische ich genau jene Stelle, wo ich vor Jahren aufgrund eines Fahrradunfalls eine Kopfverletzung hatte und genäht werden musste. Den wenig damenhaften Fluch, der mir entfährt, kann zum Glück niemand hören. Im ersten Augenblick fürchte ich wider besseres Wissen, dass zumindest eine der vielen Nähte geplatzt ist, ein reflexartiger Griff belehrt mich aber, dass der Schmerz schlimmer ist als der Schaden. Äußerlich bin ich unversehrt geblieben, aber innen beginnt es zu brodeln - und zwar im zweifachen Sinn.
Inzwischen sind nämlich die Barometerwerte für Ungeduld und Ärger sprunghaft in die Höhe geschnellt und ich hacke wie ein Raubvogel auf die Tastatur ein, um das System neu zu starten. Sie ahnen es sicher: Das hätte ich mir getrost sparen können.
Resigniert greife ich endlich zum Telefonhörer - wie dumm von mir, das nicht als erstes zu tun (!) - und stelle fest, was ich schon vermutet habe: Die Leitung ist tot. Na klasse. Und wo habe ich die Servicenummer? Spontan fallen mir Möglichkeiten wie das elektronische Telefonbuch und die Website des Betreibers ein, aber daraus wird ja wohl nichts.
Auf "Entzug"
Frustriert muss ich zur Kenntnis nehmen: Ich bin offline, getrennt von der virtuellen Welt, abgeschnitten von allen modernen Informationsquellen. Irgendwie fühle ich mich wie ein ausgesperrtes Schulkind, das den Schlüssel vergessen hat, und ebenso ratlos.
Typisches Suchtverhalten werden all jene sagen, die glücklich und zufrieden ohne das Netz der Netze leben und dabei nichts vermissen. Aber ganz so einfach ist das doch nicht.
Während die Mehrheit der Menschen auf allerlei andere Informationsquellen, vor allem schwarz auf weiß (oder bunt) Gedrucktes zurückgreifen können, wenn der heiße Draht zur Web-Community unterbrochen ist, stehen mir solche Alternativen gar nicht zur Verfügung - es sei denn, ich habe sie in stundenlanger Arbeit vom Buch auf die Glasplatte des Scanners und von da in den Computer gebracht. Aber gerade, wenn man etwas überarbeitet, tut man gut daran, nicht auf vorgestrige Unterlagen zurückzugreifen, sondern nachzusehen, ob man wirklich up to date ist.
Genervt krame ich in meiner überfüllten Handtasche nach dem Handy, das mir natürlich prompt entgleitet und unsanft auf dem Boden landet. Inzwischen tue ich mir keinen Zwang mehr an und zische erneut eine wenig feine Bemerkung zwischen den Zähnen hervor. Zum Glück hat das Handy keinen Schaden genommen und ich überlege mir, wen ich wohl an einem Samstag um 7.30 Uhr um Hilfe bitten könnte, aber die zwei Frühaufsteher, die in Frage kommen, haben die Mailbox eingeschaltet und der Rest der Welt liegt wohl noch in tiefem Schlummer.
Varianten für ein Alternativprogramm
Nun ist es ja nicht so, dass das Konzept die einzige anstehende Arbeit ist, wenn auch die dringlichste und vermutlich zeitraubendste. Da ist ja auch noch die Buchung unserer Reise im Mai - mangels Telefon und Internet aber ebenfalls rasch vom Arbeitsplan gestrichen - und die neuen CD's sollten archiviert und in die Datenbank ... Aber dazu brauche ich auch das Web.
Erstaunt und ein wenig betroffen stelle ich fest: Ohne Telefon und ohne Internet reduziert sich der Stapel an jenen Arbeiten, die ich erledigen und abhaken kann, auf ein Minimum und verkehrt proportional dazu steigert sich mein Unmut zur ausgewachsenen Frustration. Paradoxerweise fällt mir gerade jetzt die alte Weisheit ein: Geteiltes Leid ist halbes Leid - die Basis jeder Gesprächstherapie - aber ohne Telefon und ohne E-Mail, nur mit dem Handy bewaffnet, kann das eine teure Angelegenheit werden.
Und dann kommt die erleichterte Erkenntnis: Mein Computer funktioniert ja noch. Und so schreibe ich mir, wie viele andere auch, Frust und üble Laune von der Seele. Nein, nicht damit andere auch etwas davon abkriegen, sondern damit ich über mich und mein Missgeschick lachen kann und meine Leserinnen und Leser die Situation ähnlich komisch empfinden wie ich im Nachhinein.
Kein Schaden ohne Nutzen
Apropos Komik: Im Laufe des Vormittags erfahre ich, dass an diesem Samstag Arbeiten an den Telefonleitungen vorgenommen werden und es daher "zu längerfristigen Ausfällen" kommen kann. Das wurde auch mittels Aushang bekannt gegeben. Dunkel erinnere ich mich an den aufgeklebten Zettel am Fahrstuhl - aber den hätte ich sowieso nicht lesen können.
Also erledige ich, was ich ohne brauchbare Verbindung zur Außenwelt erledigen kann und ziehe mich dann mit einem Buch auf die Wohnzimmercouch zurück, wo gerade die ersten Sonnenstrahlen auf ihrer Wanderung durch den Raum angekommen sind.
Gegen Mittag läutet es überraschend an der Tür. Der junge Mann von gegenüber fragt mich doch tatsächlich, ob ich weiß, was mit dem Telefon los ist. Triumphierend verrate ich ihm, was ich inzwischen weiß. Und während er sich mein Handy leiht und aus der offenen Wohnungstür gegenüber verlockender Bratenduft strömt, frage ich mich, warum ihm der Zettel an der Aufzugtüre wohl entgangen ist. Der kann doch sehen und lesen ...
Als auch durch meine Küche - jetzt habe ich ja Zeit - angenehme Düfte strömen, bin ich wieder ganz versöhnt mit meinem freien Samstag. Schließlich kommt es nicht allzu oft vor, dass ich so viel Zeit für mich habe und darum beschließe ich, erst gar nicht nach anderen Arbeiten zu suchen, die sich zweifellos hätten finden lassen, und genieße den Rest des Tages wie schon lange nicht mehr.
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