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Alltag
Ohne Lesestoff wäre mein Leben so viel ärmer.
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27.09.2017
Über Lydias Welt bin ich auf die Blogparade voon Anja und Olaf Senkpiel gestoßen, die mich zu diesem Beitrag inspiriert hat.
Mein "Blätterwald"
Ich war und bin eine Leseratte. Genau wie Lydia bin ich blind, hatte als Kind aber noch einen geringen Sehrest, der sich inzwischen verflüchtigt hat. Mein erstes Lesebuch hatte also sehr große Schrift. Aber Lesen mit den Augen war für mich schon damals äußerst ermüdend. Mit sieben Jahren erlernte ich die Braille-Schrift (auch Blindenschrift oder Punktschrift), stellte sozusagen das "Leseorgan" von den Augen auf die Finger um, und von da an war das Tor in die Weiten der Bücherwelt einen großen Spalt breit geöffnet.
Aber die Braille-Schrift-Wälzer waren und sind unhandlich, enorm schwer, und im Unterricht unauffällig unter der Bank zu lesen, ging gar nicht. Dafür aber umso besser nachts heimlich unter der Decke, denn Licht brauchte ich zum Lesen mit den Fingern ja keines, und kalte Hände bekam ich unter der warmen Decke auch nicht.
Während der Sommerferien trafen unzählige Kartons aus der Braille-Bibliothek mit Büchern ein, die ich dann je nach Wetter draußen in der Sonne oder im Wohnzimmer verschlang. Ergänzend dazu las mir auch noch meine Mutter vor. auf die Märchen folgten Drei-Groschen-Romane, Zeitschriften und natürlich Bücher — eigentlich alles, was sie selbst las. Kaum etwas davon gab es in Braille-Schrift.
Ich bin also mit Büchern aufgewachsen und sie begleiten mich seither wie gute Freunde. Aus ihnen beziehe ich Wissen ebenso wie Unterhaltung oder Trost; sie lenken mich ab, wenn ich es nötig habe und sie entführen mich an Orte, die ich sonst nie kennen lernen würde.
Bücher in Braille-Schrift sind jedoch nicht nur groß und schwer; sie ermöglichen wie andere Bücher auch eine ganz besondere "Buchfühlung". Erhabene Punkte auf Papier sind nicht nur bloße Schrift, man kann den Text auch in Braille-Schrift gestalten, obwohl es natürlich keine besonderen Schriftauszeichnungen und Schriftgrößen gibt. Aber Leerzeilen, zentrierte Textpassagen, Unterstreichungen durch eine Punktreihe, Einrückungen — all das gibt dem Text Gestalt und hilft, ein Buch zu strukturieren. Genau wie jeder andere Leser eines Buches auf Papier lässt sich darin blättern. Reicht die Zeit noch, um bis zum nächsten Kapitel zu lesen? Beide Hände auf die Buchseiten legen, befühlen und weiterblättern; dann ein Griff zur Seitenzahl, und schon ist die Frage beantwortet, denn neue Kapitel sind immer abgesetzt oder beginnen auf einer neuen Seite. Das ist in Büchern mit erhabenen Punkten nicht anders als in einem Taschenbuch. Ich behaupte sogar, dass die sinnliche Wahrnehmung eines Buches in Braille-Schrift genauso intensiv sein kann wie beim Lesen mit den Augen. Wie sollte es auch anders sein, wenn die Hände für das Lesen unverzichtbar sind?
Nein, ich möchte das gedruckte Buch in Blindenschrift nicht missen, und lese auch Zeitschriften gerne auf Papier.
Und trotzdem ...
Von analog zu digital
Wenn man es genau betrachtet, so lese ich Bücher in elektronischem Format schon seit Ende der 80er Jahre des letzten Jahrtausends. Nein, ich flunkere keineswegs. Wie das möglich ist?
Die Erklärung ist simpel und hat mit sehr viel Zeitaufwand zu tun. Weil Bücher in Braille-Schrift oft sehr spät erscheinen und individuelle Vorlieben wegen der hohen Produktionskosten oftmals zu kurz kommen und meine Mutter mir wegen der räumlichen Entfernung nicht mehr so oft vorlesen konnte, begann ich einfach Bücher zu kaufen und sie zu Hause am PC mit einem Scanner einzuscannen und mit einem OCR-Programm (OCR = Optical Character Recognition, also automatische Zeichenerkennung) in Text übersetzen zu lassen. Abend für Abend saß ich vor meinem Computer und gestattete mir das Lesen eines Buches erst, wenn ich es komplett fertig gescannt hatte. Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre war das Ergebnis meiner abendfüllenden Scan-Orgien noch nicht immer befriedigend. Bei minderwertigem Papier mit dunklen Einschlüssen gab es viele Erkennungsfehler. Aber mit der Zeit fand ich heraus, dass sich Taschenbücher weniger eignen, und das nicht nur wegen des meist schlechteren Papiers, sondern auch, weil diese sehr oft bis ganz zum Innenbug bedruckt waren und der Scanner oft Zeichen nicht erfasste. Daher stehen auch heute noch viele Hardcover in meinen Regalen.
Diese gescannten Bücher konnte ich bereits damals mit einer Braille-Zeile lesen, die ich ja ohnehin auch für die Arbeit am Computer benötige. In unserem Haushalt gab es daher schon sehr früh einen PC. Später kamen zur Braille-Zeile synthetische Sprachen dazu, also eine weitere Möglichkeit des "Lesens", auch wenn ich bis heute die haptische Variante — sei es nun gedruckte Braille-Schrift auf Papier oder die elektronische Variante auf der Braille-Zeile — der Sprachausgabe immer noch vorziehe.
"Bücherregen ist Büchersegen"
Und dann kam das elektronische Buch auf den Markt. Während viele Leser darauf mit Skepsis reagierten, konnte ich mein Glück kaum fassen: Keine ganzen Abende vor dem Scanner mehr, keine mühsame Korrekturarbeit. Denn zufolge einer Art "Berufskrankheit" war es für mich zwanghaft wichtig, die Texte während des Lesens auch zu korrigieren. Auch diese oft recht mühsame Arbeit fiel nun weg. Einfach im Internet nach der Neuerscheinung suchen, kaufen und loslegen — welch ein paradiesischer Luxus! Die ganze Welt des Buches zu meinen Füßen, und das auch noch auf kleinstem Raum.
Denn längst lese ich meine Bücher nicht nur am PC. Ich nutze zusätzlich mein Smartphone oder meinen Organizer, der mit Sprachausgabe und Braille-Zeile ausgestattet ist. Hier habe ich immer mindestens zehn Bücher vorrätig, damit der Lesestoff nie ausgeht. Der Rest liegt in der Cloud und braucht nur heruntergeladen zu werden.
Apropos Cloud ...
Blinden Lesern verdunkeln auch schon mal schwarze Wolken den Lesehimmel, denn die Mehrheit der eBooks sind durch DRM (Digital Right Management) vor dem Kopieren geschützt. Das schützt zwar Autoren und Verlage, aber es schränkt auch blinde Leser stark in der eBook-Nutzung ein. Denn beispielsweise ist ein Tolino für uns völlig unzugänglich, und bei mit DRM geschützten eBooks somit eine Konvertierung in ein für den Organizer lesbares Format nicht möglich. Auch bei einer Bibliothek entlehnte eBooks können von blinden Bücherwürmern auf einem Smartphone nicht gelesen werden, weil die dafür benötigte App das Buch nicht als Text, sondern als Bild anzeigt, das nur wie Text aussieht. Sprachausgaben oder Braille-Zeilen sind aber bei Grafiken machtlos.
Und dennoch: Meine Bücherwelt ist um so viel größer und weiter geworden; und aktueller auf jeden Fall.
Buch oder eBook?
Ich lese seit vielen Jahren vorwiegend elektronische Bücher, wenn auch nicht aus bloßer vorliebe, sondern auch aus Notwendigkeit. Das Wissen, nahezu zeit- und ortsunabhängig auf meine Bücher zugreifen und jederzeit ein neues besorgen zu können, vermittelt mir ein Gefühl von Luxus, das ich nicht mehr missen möchte.
Für mich heißt es daher keinesfalls entweder Papier oder eBook, sondern ganz eindeutig sowohl als auch.
2 Kommentare
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Ich behalte mir vor, Einträge wider die guten Sitten oder den guten Geschmack zu entfernen, möchte meine Leser jedoch ausdrücklich zu themenbezogenen Kommentaren oder Fragen ermutigen.
Lydiaswelt schrieb am Mittwoch, 27.09.17 13:10 Uhr:
Ja, das Lesen unter der Bettdecke war schon was. Vor allem, weil unsere Erzieherinnen es meist nicht merkten.
Anja schrieb am Montag, 02.10.17 23:58 Uhr:
Hallo Lydia,
auch hier nochmal: Danke für Deinen Beitrag zur Blogparade. Vor allem Danke, für die Horizonterweiterung!
Die Zusammenfassung mit einer Liste aller Teilnehmer steht jetzt bei uns im Blog: http://senkpiel.net/zusammenfassung-blog parade-ebook-oder-gedrucktes-buch/
Gruß
Anja