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Selbst bestimmen heißt auch selbst die Verantwortung tragen.

Zwischen Eigenständigkeit und Abhängigkeit

15.03.2022

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Viele Menschen können sich nicht vorstellen, wie blinde Menschen ihren Alltag organisieren. Und bei flüchtiger Betrachtung der gegebenen Einschränkungen ist diese Einschätzung gut nachvollziehbar.

Aber genau wie jemand nach einiger Zeit lernt trotz Gipshand notwendige Verrichtungen im Alltag zu bewältigen, so lernen auch blinde Menschen mit Hilfe ihrer Angehörigen, spezieller Schulungen und nicht zuletzt mit modernen Hilfsmitteln ihren Alltag neu zu organisieren — eine gute Portion Lernbereitschaft und Ausdauer vorausgesetzt.

Mit etwas Übung lassen sich die Geheimnisse des Kleider- und auch des Kühl- oder Vorratsschranks enthüllen, wird der Weg zur Arbeit und wieder nach Hause, ja selbst die Planung einer Reise zur Routine.

Routine heißt natürlich noch lange nicht, dass alles mühelos funktioniert. Sportler, Studenten, Musiker, Karrieremenschen — sie alle wissen genau, dass Erfolg erkämpft werden will und man sich darauf keineswegs ausruhen darf, wenn dem Stillstand vorgebeugt werden soll. Warum also sollte diese Erkenntnis für den Umgang mit einer Behinderung nicht gelten?

Gezieltes Training

So wie Sportler und Musiker ihre Trainings- und Übungseinheiten planen und berufsorientierte Menschen aus Eigeninitiative Fortbildungsveranstaltungen besuchen, muss ich mir als Mensch mit einer gravierenden Sinnesbehinderung einen Trainingsplan zurecht legen und erst einmal darüber Klarheit verschaffen, wie meine Ansprüche an das Leben aussehen. Dabei ist es nicht unbedingt erforderlich, gleich alle Träume aufzugeben. Denn gerade unsere Träume und Wünsche sind ein wichtiger Antrieb zur Erreichung des einen oder anderen Ziels. Wer gerade erst mit dem Klettertraining begonnen hat, wird sich wohl kaum ins Hochgebirge wagen, darf aber sehr wohl davon träumen, es eines Tages zu schaffen.

Der Traum als Antriebskraft hat eine enorm motivierende Wirkung, sobald wir aus dem rein träumerischen Wunschdenken ein erstrebenswertes und vor allem auch erreichbares Ziel geformt haben, das sich bei entsprechenden Trainingseinheiten und mit einer guten Ausrüstung auch erreichen lässt. Das fühlt sich an wie eine Traum-Gratwanderung zwischen Ansporn und Entmutigung — immer in Gefahr die Balance zu verlieren.

Ich erträume mir also mein Leben, um es dann nach Kräften so zu formen, dass es annähernd an meinen Traum herankommt. Ich setze mir konkrete Ziele, die ich erreichen möchte: eine sinnvolle und mich ausfüllende Arbeit, ein Heim, in dem ich mich wohl fühlen und in das ich mich zurück ziehen kann, Reisen, während derer ich bleibende Eindrücke sammeln und deren Erinnerungen ich bis ins vorgerückte Alter pflegen kann, Zeit mit dem Partner und Freunden verbringen, Konzerte besuchen, Bücher lesen, einen Berg besteigen oder einfach nur im Wald sitzen und dem Gesang der Vögel lauschen ...

Meine Ansprüche an das Leben sind relativ vielfältig, wenn auch nicht gerade spektakulär. Diesen Ansprüchen muss ich meinen persönlichen Trainingsplan auch anpassen — oder eben das "Traumziel" korrigieren. Ich muss mich mit moderner Technik auseinander setzen, mich im Internet einigermaßen zurecht finden, um recherchieren und planen zu können, benötige eine gute Computerausrüstung mit entsprechender Peripherie, um mich in die modernen Kommunikationskanäle einklinken zu können. Ohne Sicht auf den Bildschirm, jedoch mit Unterstützung eines Bildschirm-Ausleseprogramms bei entsprechendem Trainingsprogramm durchaus erfolgversprechend. Und — ganz wichtig: Was ich nicht schaffe, muss ich eben organisieren.

Selbstständigkeit hat ihre Grenzen

Ich muss mir jedenfalls genau überlegen, was ich nach Einarbeitung und mit guter technischer Unterstützung selbst bewältigen kann und wozu ich besser Hilfe in Anspruch nehme.

Mein Ziel ist eine möglichst weitreichende Eigenständigkeit und Unabhängigkeit vor allem in immer wieder kehrenden Situationen. Dazu gehört die selbstständige Bewältigung der wichtigsten Wege ebenso wie tägliche Verrichtungen im Haushalt. Auch Geldgeschäfte erledige ich lieber ohne fremde Hilfe.

Wenn es aber um einen einmal im Jahr notwendigen Behördengang geht oder um die Bewältigung einer unbekannten Strecke, die ich vermutlich nie wieder benötige, dann organisiere ich mir Hilfe. Auch nehme ich mir die Freiheit bei gemeinsamen Unternehmungen mit Freunden mir vorher nicht allzu sehr den Kopf zu zerbrechen, wie ich von A nach B komme oder ob es vielleicht bei der Unternehmung Programmpunkte geben könnte, die mich überfordern. Ich vertraue darauf, dass meine Freunde und Bekannten im Wissen um meine Einschränkungen mich bei Bedarf unterstützen.

Selbstbestimmt leben

Was darunter zu verstehen ist, muss wohl jedr Mensch für sich selbst entscheiden, ob nun behindert oder nicht. Natürlich möchte ich so viel wie möglich selbst erledigen. Selbstbestimmt bedeutet für mich aber keinesfalls, alles selbst machen zu müssen, jedoch selbst zu entscheiden, mir helfen zu lassen — oder eben nicht. Auf jeden Fall bin ich bereit, die Verantwortung auch für Fehlentscheidungen zu tragen, wenn einmal etwas schief geht.

Also, liebe Verwandten, Freunde und Bekannten: Wenn ich einmal das Angebot ablehne, mich mit dem Auto nach Hause zu fahren, und mir dann auf dem Heimweg den Fuß verknackse, dann denkt bitte daran, dass es meine Entscheidung war und außer mir absolut niemand auch nur den Hauch einer Mitverantwortung trägt. Ein "... hätte ich bloß ..." ist also absolut unangebracht!

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