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Was ich im Film nicht sehen kann, aber für das Verständnis wichtig ist, beschreibt die Stimme aus dem Off.

Wenn Bilder wirklich bewegen

25.04.2023

1978. Gebannt sitze ich vor meinem winzigen Schwarz-weiß-Fernseher, aus dessen Lautsprecher eine unheimliche Musik dringt. Die blinde Susy (Audrey Hepburn) im Film Warte, bis es dunkel ist hat — wie clever! — alle Glühbirnen zerschlagen, damit der Eindringling in ihrer Wohnung so wie sie nichts sehen kann. Aber er sieht sie doch. Warum nur? Wie Susy kann ich nicht sehen, was sich hier abspielt.

Etwas frustriert stürze ich zum Telefon im Vorraum, wickle in Windeseile die zehn Meter Kabel ab, kehre mit dem Apparat zum Fernseher zurück und wähle währenddessen die Nummer meiner Eltern. "ja", tönt es etwas unwirsch aus dem Telefonhörer. So kurz angebunden kenne ich meine Mutter gar nicht, passe mich aber wegen des laufenden Films ihrer Knappheit an und frage: "Warum kann er sie sehen?" "Offener Kühlschrank ... tututut" Aufgelegt! Auch bei ihr befindet sich das Telefon im Vorraum — ohne langes Kabel! Sie musste also den Fernseher verlassen.

Wenn man so will, war das meine erste Erfahrung mit einer Filmbeschreibung, der Audiodeskription.

Waren es vor 40 Jahren enorm lange Dialogpausen und Musikbrücken, die blinde Menschen sozusagen aus der Handlung ausgeklinkt haben, sind es heute rasch aufeinander folgende Szenenwechsel, häufig ohne Dialoge, überfrachtet mit lauter Musik, die das Zuschnappen einer Tür oder das Klirren eines Löffels auf der Untertasse gnadenlos übertönen. So oder so dämpft das fehlende Wissen um wichtige nonverbale Details das Vergnügen an Film und Fernsehen. Oft genug ist es schwierig bis unmöglich, der Handlung zu folgen; das Interesse erlahmt.

Wirklich zu komisch?

Fast 20 Jahre später. Unser geplanter Tandemausflug ist buchstäblich ins Wasser gefallen. Deshalb flüchten mein Kollege und ich ins nächstgelegene Kino. Wir hätten es schlimmer treffen können. Gezeigt wird eine bekannte Komödie. Welche? Keine Ahnung! Das habe ich erfolgreich verdrängt.

Als der erste kollektive Lacher aufbrandet, beugt sich mein Kollege zu mir und versucht den Grund zu erklären. Er kommt nicht weit, denn die Lacher verstummen wieder und mein Sitznachbar lässt ein scharfes "Sch" hören. Ich sitze also da und versuche aus den Dialogen zu entnehmen, was da denn gar so witzig ist. Als mein Kollege selbst in lautes Lachen ausbricht, kümmert er sich nicht weiter um ein eveentuelles Zischen eines Nachbarn, sondern erklärt mir, was passiert ist. Und dann wird es wirklich komisch — nicht vorne auf der Leinwand, sondern im Saal. Mitten in die wieder eingekehrte Stille hinein lasse ich mich zu einem lautstarken Heiterkeitsausbruch hinreißen und will danach vor Peinlichkeit am liebsten im Boden versinken. (Humor ist, wenn man trotzdem lacht; heute finde ich es amüsant.)

Solche und ähnliche Erlebnisse waren wohl mit verantwortlich, dass ich keine sehr eifrige Kinogängerin bin. Interessant finde ich allerdings, dass ich ernsthaften Filmen immer viel leichter Folgen kann als Komödien. Letztere leben eben sehr stark von der Situationskomik, die sich vorwiegend visuell mitteilt. Erstere bauen doch stärker auf Dialoge und bieten darum blinden Kinobesuchern eine bessere Basis, der Handlung zu folgen.

Ein Fisch geht ins Netz

2014. Bewaffnet mit meinem iPhone und einem Kopfhörer darf ich gemeinsam mit anderen Vertretern unserer Landesgruppe einer Filmpremiere beiwohnen — und das auf hervorragenden Plätzen! Zwischen den beiden extrem bequemen Stühlen ist eine großzügig bemessene Ablagefläche mit einer Vertiefung für den riesigen Sack Popcorn, der bei Kinobesuchn nicht fehlen darf.

Gespannt setze ich meine Kopfhörer auf und starte die App Greta. Schon zu Hause habe ich die Audiospur zum Film heruntergeladen. Das Mikrofon "lauscht" eine Weile dem Film, dann setzt die Stimme aus dem Off ein. In Dialogpausen wird erklärt, was sich in den Szenen abspielt. Wie schön, gemeinsam mit dem Rest des Saales lachen zu können. Und zu lachen gibt es in diesem Film einiges. Diesmal bleibt die Komik, wo sie hingehört: auf der Leinwand.

Noch ein paar Worte zu dem Film "Die Goldfische". Meine Eindrücke habe ich im Beitrag Rendezvous mit Gretafestgehalten.

Es geht um eine Wohngemeinschaft von Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen. Da kann sich schon manche — unfreiwillige — komische Situation ergeben. Aus meiner Sicht wurde hier das Thema Behinderung allerdings mit sehr viel Respekt behandelt, sodass einem als Zuschauer die Hemmungen großteils genommen werden, über die Situationskomik (mit)zulachen.

Eine der handelnden Personen ist übrigens blind, hervorragend dargestellt durch Birgit Minichmayr, die sich im Vorfeld bei Experten unserer Landesgruppe hinreichend informiert hat.

Lebendige Szenerie

Ob nun im Kino mittels Audiospur auf dem Handy, im Theater oder Fußballstadion mit Live-Kommentar über Kopfhörer oder zu Hause vor dem Fernseher — Audiodeskription hat blinden Menschen eine vorwiegend visuell dominierte Welt völlig neu erschlossen. So entstehen vor allem bei Menschen, die früher sehen konnten, mehr oder weniger detaillierte Bilder im Kopf, weshalb Handlungsabläufe besser im Gedächtnis haften bleiben. Die Rechtsanwälting erhält plötzlich zu ihrer Stimme eine streng wirkende Frisur und flößt mit ihrem Designerkostüm und dem energischen Schritt Respekt ein. Da wird der blühende Kirschbaum zur idyllischen Kulisse oder die schwarzen Wolken kündigen das nahende Untwetter an.

Film und Fernsehen haben dank Audiodeskription für blinde Menschen eine ganz neue Qualität erhalten.

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