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Anders zu sein ist nicht schlimm, soferne man sich nicht auch minderwertig fühlen muss.

Schade, dass du das nicht sehen kannst ...

August 2008

Zu den (1) Kommentaren

Der Zug ist wieder einmal gerammelt voll. Kurz entschlossen öffne ich die nächstliegende Abteiltüre. "Ist hier noch ein Platz frei", frage ich und warte geduldig, denn ich erhalte keine Antwort. Entweder ist das Abteil voll besetzt und man wundert sich, dass ich dennoch frage oder aber es hat jemand zustimmend genickt, was ich nicht sehen kann.

Ich verharre an der offenen Tür und dann kommt eine Stimme vom rechten mittleren Sitzplatz. "Ja, einer." Welcher wohl? Der rechte mittlere Platz scheidet aus, wären da noch drei Möglichkeiten, denn auch die beiden Plätze an der Tür sind besetzt, wie ich aus den Geräuschen schließe. Rechts verstaut gerade jemand sein Gepäck und links blättert jemand in der Zeitung (oder in einem anderen Papier).

Also trete ich vor und dann sagt dieselbe Stimme: "Der Platz neben mir." Ah, sehr hilfreich. Ich bedanke mich, falte meinen Langstock zusammen und mache es mir mit meinem Organizer und dem angefangenen Krimi am Fensterplatz bequem.

Es herrscht Stille. Vermutlich sind es alles Alleinreisende. Irgendwann sagt eine Frauenstimme auf dem Mittelplatz mir schräg gegenüber: "Schau mal Julia (Name geändert), ein Reh. Siehst du es?" Die Antwort bleibt aus. Nach einer Weile wird die Frage wiederholt, aber auch diesmal bleibt es still. Vielleicht ein Nicken? ...

Ich vertiefe mich wieder in meine Lektüre, versuche es wenigstens, bis die Frau erneut das Wort ergreift: "Schau mal, was für ein lieber Hund! Siehst du ihn?" Nach einer Weile kommt Julias leise Antwort: "Nein." Nichts weiter, aber ich glaube, in dem einen Wort nicht nur Enttäuschung, sondern beinahe so etwas wie Verzweiflung herauszuhören - oder bin ich etwa übersensibel?

Mein Interesse ist jedenfalls geweckt. Julia, die mir gegenüber sitzt, hat offenbar Probleme mit dem Sehen und ihre Mutter versucht vermutlich herauszufinden, wie stark die Seheinschränkung tatsächlich ist.

Die Frau seufzt. Auch sie ist offenbar enttäuscht. Genau wie Julia scheint sie das Empfinden zu haben, irgendwelchen Anforderungen nicht genügen zu können.

Ist Anderssein auch "normal"?

Sowohl das sehbehinderte Kind als auch dessen Eltern stehen einer Behinderung zumindest anfangs oft hilflos gegenüber. Sie sind ihren Emotionen ausgeliefert und erfahren nicht selten durch die Reaktion der Umwelt auch noch das Gegenteil von Trost und Hilfe, nämlich Neugierde oder sogar Sensationslust, auffälliges Starren ebenso wie verschämtes Abwenden. Nicht selten wird das bekundete Bedauern des "armen Kindes" und der "schwer geprüften Eltern" als zusätzliche schmerzhafte Last empfunden und manchmal hinterlässt auch ehrliche Anteilnahme bei den "Bedauerten" ein unangenehmes Gefühl der Unzulänglichkeit, nicht der gängigen Norm zu entsprechen und somit einen Makel zu haben.

Ein Dank an meine Eltern

Ich erinnere mich gut an meine eigene Kindheit und Jugend und die Reaktion der Mitmenschen auf das Unglück, das meine Eltern getroffen hat. Man tut sich keinen Zwang an, spricht unverhohlen mit den Eltern über das "Objekt" des Dramas, auch im Beisein desselben.

"In welche Klasse geht sie denn?" Die Frage richtet sich an meine Mutter, nicht an mich, als wäre ich nicht nur sehbehindert, sondern auch in meiner Kommunikation eingeschränkt. Gefolgt von: "Gibt es denn keine Hilfe für ihre schlechten Augen?" ...

Mama bleibt immer gelassen. Sie hat gelernt, mit solchen Situationen umzugehen und ich vermute, dass sie und mein Vater mit vielem ganz alleine fertig werden mussten. Heute nach so vielen Jahren ist meine Bewunderung für den Umgang meiner Eltern mit meiner Behinderung enorm groß. Aber heute bin ich auch in der Lage, die mir damals als indiskret und aufdringlich erscheinenden Fragen und Äußerungen der Menschen als Mitgefühl und den Versuch zu interpretieren, Anteil am schweren Schicksal meiner Eltern zu nehmen.

Als aufsässiger Teenie, der neben einer von der Gesellschaft als Stigma eingestuften Behinderung auch noch mit den Problemen der Pubertät kämpft, hat mir allerdings jegliches Verständnis dafür gefehlt. Vielmehr hat es mir erst richtig bewusst gemacht, abseits zu stehen und nicht wirklich dazu zu gehören. Dies ist vielleicht umso schmerzhafter für mich gewesen, als mich meine Eltern immer für "voll" genommen und mich nach Kräften nicht nur gefördert, sondern auch gefordert haben. Sie haben mir vom Kleinstkindalter an immer das Gefühl vermittelt, dass ich ihnen genüge und "ganz normal" bin, auch wenn ich manche Dinge nicht so gut kann wie andere. Das gleiche Empfinden hat mir auch meine Schulzeit vermittelt. Unzulänglich und "außerhalb der Norm" zu sein, hat mein an sich gut entwickeltes Selbstwertgefühl als Jugendliche stark reduziert und ist daher untrennbar mit meinen Pubertätsjahren verknüpft.

Mitten in meine Gedanken, die wie ungebetene Schatten aus der Vergangenheit hervorgekrochen kommen, mischt sich plötzlich eine geradezu unangemessene Erheiterung. Ich spüre ein Lachen in mir hochsteigen, als mir ein Erlebnis einfällt, das sich tief in meine Erinnerung gegraben hat. Ich will es hier wiedergeben, weil es auf eine gut verständliche Weise zeigt, wie meine Mutter, eine einfache Frau ohne besondere Kenntnisse um Pädagogik und Behinderung, auf ungewöhnliche und verblüffende Weise auch extrem unangenehme Situationen souverän gemeistert hat.

Humor - eine wirksame Strategie

Es ist Freitag und Mama hat mich vom Internat abgeholt. Wir unterhalten uns auf dem kurzen Weg vom Bahnhof nach Hause lebhaft über irgend etwas, aber plötzlich bricht sie mitten im Satz ab. Dann höre ich sie murmeln: "Schon wieder die zwei alten gaffenden Weiber!" Ich traue meinen Ohren nicht. Hat sie tatsächlich "alte gaffende Weiber" gesagt oder habe ich mir das nur eingebildet. Das ist so ganz und gar nicht ihre Ausdrucksweise, und hätte ich mich in dieser Form geäußert, wäre sie mir ob solcher Respektlosigkeit sofort über den Mund gefahren. "Guten Tag, die Damen", sagt sie in einem zuckersüßen Tonfall, der ebenso untypisch für sie ist wie die vorangegangene Wortwahl.

"Dreh dich doch mal langsam im Kreis", fordert sie mich auf. Auch das ist so irritierend, dass ich keinerlei Fragen stelle, sondern entgegen meiner grundsätzlich oppositionellen Haltung ausnahmsweise widerspruchslos und verblüfft gehorche.

"So, das genügt", sagt sie schließlich resolut, "die beiden Damen haben dich jetzt lang genug ansehen dürfen." Damit schnappt sie mich am Ellbogen und wir machen, dass wir aus dem Staub kommen, denn inzwischen habe ich alle Mühe, nicht lauthals loszulachen. Mama, du bist mir vielleicht eine!

Hemmschwellen überwinden

Ich habe längst zu lesen aufgehört. Es drängt mich, Julias Mutter zu vermitteln, dass auch ein Leben mit Behinderung ein erfülltes Leben sein kann. Aber ich unterscheide mich nicht von anderen Menschen und sehe mich solchen Situationen hilflos gegenüber, obwohl ich - weiß Gott - über ausreichend Erfahrung verfüge, wie man mit einer Behinderung lebt. Und so schweige ich, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll.

Kinder sind da wesentlich unkomplizierter. Sie sind neugierig und mit einem unstillbaren Forscherdrang ausgerüstet - und sie kennen zum Glück das Gefühl der Peinlichkeit noch nicht.

Der Trageriemen meines Organizers baumelt lose von meinen Knien und plötzlich spüre ich einen leichten Zug daran, gefolgt von Julias Frage: "Was ist denn das?" Ich erwarte schon, dass die Mutter das Kind stoppt, aber sie sagt nichts. Entweder ist sie selbst neugierig, was weiter passiert, oder es hat ihr einfach die Sprache verschlagen.

Julias Finger gleiten dem Riemen entlang und schließlich fasst die kleine Hand nach dem Gerät. Da die Mutter noch immer nicht reagiert, stehe ich jetzt vor der keineswegs einfachen Aufgabe, wie ich einem vermutlich noch nicht schulpflichtigen Kind erklären soll, was es da anfasst und wozu es dient. Kurz entschlossen nehme ich Julias Hand, lege die Finger auf die Braillezeile des Organizers und erkläre ihr, dass ich ein Buch lese, aber nicht mit den Augen, sondern mit den Fingern. Das muss die Kleine erst verdauen, aber ihre Fingerspitzen tasten neugierig, auch wenn Julia nicht verstehen kann, worum es geht.

Das Eis ist gebrochen und nun wagt sich auch die Mutter vor und möchte wissen, wie man sein Leben mit einer Sehbehinderung organisiert, während ich Julia auch die Sprachausgabe vorführe. Zumindest weiß Julias Mutter jetzt, wie ihre Tochter vielleicht bald lesen wird.

Ob sich die anderen Mitreisenden wohl sehr in ihrer Ruhe gestört gefühlt haben? Ich weiß es nicht. Manchmal hat es auch Vorteile, nicht alles zu sehen.

Behindert sein - behindert werden

Zweifellos kommt auf Julia und ihre Familie noch eine Reihe von Problemen zu. Nur ein Teil davon hat aber mit der Behinderung selbst und deren Bewältigung zu tun. Grundrehabilitation, Mobilitätstraining, Schulung in lebenspraktischen Fertigkeiten und Unterstützung bei der schulischen Ausbildung sowie zahlreiche Fachstellen für Beratung und Kontakt helfen, mit den Auswirkungen einer Behinderung auf den Alltag fertig zu werden.

Weniger Hilfe gibt es für die zusätzliche Behinderung durch die Signale einer Gesellschaft, in der Behinderung als Makel und Wertminderung angesehen werden. Ist nicht gerade die große Anzahl an Beteuerungen über den Wert behinderter Menschen in unserer Gesellschaft ein sicheres Zeichen dafür, dass es sich eher um ein Wunschziel als um den Status quo handelt?

Wir leben in einer Gesellschaft, die enorm stark auf visuelle Wahrnehmung fixiert ist. Verminderung oder gar Verlust des Sehvermögens ist zweifellos ein schwerer Schlag und schließt von vielen Dingen aus. Was aber am meisten behindert, ist nicht die Behinderung selbst, sondern der gesellschaftliche Umgang mit derselben. Mehr noch als die körperliche Beeinträchtigung, die sich zu einem Teil sogar kompensieren lässt, behindern Unwissenheit, Hilflosigkeit und Tabuisierung.

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1 Kommentar

  1. Susanne Müller schrieb am Montag, 15.01.24 10:39 Uhr:

    Schade, dass solche Artikel nicht auf der Straße so groß wie möglich an großen Mauern offensichtlich abgebildet werden. Dass jeder jeden Tag damit konfrontiert wird, dass die eigentliche Behinderung von der Gesellschaft selbst ausgeht. Klar, ist jeder etwas unbeholfen. Da nehme ich mich selbst nicht raus. Aber mit diesen Thema wird grundlegend falsch umgegangen. Es wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt und nicht miteinander Verständnis geübt. Austausch... Von Kindesbeinen an. Dann bleiben zumindest die "Gaffer" vielleicht aus.

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