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Blinde Menschen hören nicht besser, sie verlassen sich jedoch aus purer Notwendigkeit mehr auf ihre Ohren.

Man muss nur besser hinhören

03.01.2010

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"Das reicht jetzt", lässt sich eine leise Frauenstimme hinter mir vernehmen - gefährlich leise, würde ich sagen. Es hört sich eher wie ein Zischen an, hinter zusammengebissenen Zähnen hervorgepresst und Ausdruck höchster Erregung oder Zorn.

Die unverkennbare Warnung richtet sich an ihren etwa achtjährigen Sohn, der neben ihr sitzt und seit einigen Stationen in unregelmäßigen Abständen gegen den Vordersitz tritt. Dort sitzt eine Dame, die sich schon ein paar Mal umgedreht hat. Zweifellos fühlt sie sich gestört. Schließlich kann auch ich auf dem Nebensitz die Vibrationen spüren.

Der junge Mann täte gut daran, die Warnung zu beherzigen, bevor es zu spät ist. Woher ich das so genau weiß?

Das Bild aus meiner Kindheit

Ich sehe sie noch ziemlich deutlich vor mir, die zusammengezogenen, buschigen Augenbrauen meines Vaters und die dadurch entstehenden Falten auf der sonnengebräunten Stirn. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich den Bogen wieder einmal überspannt habe. Meist hat diese Geste völlig genügt um mir meine Grenzen zu zeigen. Zumindest bis zum Beginn meiner Flegeljahre.

Dass ich mit etwa 14 begann, diese untrüglichen Warnzeichen zu ignorieren, hatte seine Ursache aber nicht nur im Verhalten einer pubertierenden und rebellierenden Göre. Es fiel auch mit jenem Zeitpunkt zusammen, als ich das Gesicht meines Vaters nur noch verschwommen und in Umrissen wahrnehmen konnte. Mein Gehör war noch nicht darauf trainiert, die begleitenden Anzeichen in seiner Stimme richtig zu deuten und meine Wahrnehmung war auf sehen und nicht auf hören ausgerichtet. Schon gar nicht auf richtig zuhören oder hinhören, geschweige denn hineinhören.

Mein Vater hatte damals genauso wenig Ahnung wie ich, dass sich meine Rebellion keineswegs nur gegen ihn und seine Vorgaben richtete, sondern auch gegen einen schleichenden Prozess langsamer Erblindung, mit dem weder meine Eltern noch ich richtig umgehen konnten.

Leben heißt lernen und Training

Was eine Stimme auszudrücken vermag, wissen wir aus dem Theater. Ruhe, Müdigkeit, Gelassenheit, Erregung, Freude oder Wut dringen auch dann noch zu uns durch, wenn der Blick auf die Mimik nicht optimal sein sollte.

In unserem Alltag achten wir aber kaum auf den Tonfall, solange wir den Gesichtsausdruck und die Körpersprache des Sprechers optisch wahrnehmen.

Wie sehr das Heraushören von Befindlichkeiten von der visuellen Wahrnehmung abhängig ist, wird uns erst bewusst, wenn wir mit jemandem telefonieren. Spätestens dann müssen wir lernen unseren Ohren zu vertrauen.

Blinde Menschen können nicht besser hören, sie haben ihr Gehör nur besser trainiert und darum weiß ich, dass der Kleine schräg hinter mir die Nerven seiner Mutter bis zur Schmerzgrenze ausgereizt hat, selbst wenn die Lippen der Frau vielleicht zufolge ihrer Erziehung oder aus Gewohnheit noch ein Lächeln um spielen sollte.

Vielleicht ist dieses bewusste Hinhören, das mir zur zweiten Natur geworden ist, manchmal auch der Grund, warum ich allzu großer Freundlichkeit immer mit etwas Vorsicht begegne und ich mit extravertierten Menschen besser klar komme.

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