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Das Bild in meinem Kopf

26.04.2010

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"Schade, dass du diese Pracht nicht sehen kannst!" Das Leuchten in den Augen meiner Freundin hat sich auch in ihrer Stimme eingenistet. "Erzähl es mir", fordere ich sie auf; und während ich der begeisterten Schilderung lausche, entsteht nach und nach ein Bild in meinem Kopf: rote und gelbe Tulpen, dicht nebeneinander, dazwischen das Grün der langen, spitzen Blätter, kleine blaue Blumen und am Ende des langen Beets das zarte Grün des Flieders.

Tulpenbeet

Bildbeschreibung: Dicht nebeneinander stehende rote und gelbe Tulpen in voller Blüte mit kleinen blauen Blumen dazwischen.

Etwas später besichtige ich unseren Garten erneut und ergänze das Bild mit meinen eigenen Wahrnehmungen.

Gebückt, teilweise auf den Knien, untersuche ich die Blütenfülle: Da sind ganz aufgeblühte Kelche, deren Blütenblätter sich schon weit nach außen neigen und schon etwas welk anfühlen. Andere stehen kerzengerade in vollem Saft, stolz und elegant, sich leicht im Wind wiegend, wenn meine Finger sie nicht gerade daran hindern. Und dazwischen finde ich etliche kleine Nachzügler, deren Knospen spitz zulaufen und noch ganz geschlossen sind.

Während ich, das Gesicht zwischen den Blüten, meine Besichtigung fortsetze, summen die Bienen um meinen Kopf herum. Aber ich habe keine Sorge, gestochen zu werden. Als spürten sie, dass ihnen keine Gefahr droht, weichen sie mir geschickt aus. Meiner Erfahrung nach stechen Bienen bei ihrer Arbeit nur dann, wenn man sie einengt und sie sich dadurch bedroht fühlen.

Langsam beginnen meine knie von der unbequemen Stellung zu schmerzen, und ich richte mich auf, um den Flieder genauer in Augenschein zu nehmen ("Fingerschein" wäre wohl korrekter). Der eine Fliederbaum hat gerade einmal kleine Blätter, aber der andere ist nicht nur in vollem Grün, sondern hat auch schon winzig kleine Blüten angesetzt. Der dritte sieht für meinen Geschmack etwas ramponiert aus. Vermutlich bekommt er an der recht exponierten Stelle zu viel Wind ab. Einer wird helllila, einer dunkellila und einer in strahlendem Weiß erblühen.

Was meine Freundin wohl in diesem Jahr in dem dreieckigen Beet an der Hausmauer gepflanzt hat? Ich untersuche die kleinen Blüten, erkenne sie aber nicht. Jetzt wüsste ich gerne, in welcher Farbe sie blühen, denn ohne diese Information ist das Bild in meinem Kopf irgendwie leblos. Darum stelle ich sie mir einfach blau vor, am besten Königsblau! Und um nur ja keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Nein, ich kann die Farben nicht fühlen, aber ich kann meiner Phantasie auch nicht immer die Zügel anlegen, wenn sie mir eine bestimmte Farbe vorgaukelt. Aber eigentlich ist es mir nicht so wichtig, ob das Bild in meinem Kopf exakt der Realität entspricht. Hauptsache, es ist schön!

Zwischen den Steinblöcken ragen die noch kleinen Blätter der Maiglöckchen wie steile Spitzen in die Höhe, und bei meiner Expedition auf Händen und Knien entdecke ich auch bald die ersten winzigen Knospen. In 14 Tagen werden die unscheinbaren weißen Blüten bereits ihren unvergleichlichen Duft verströmen, wenn ich abends auf der Terrasse dem Gesang der Amsel lausche, die auch jetzt gerade in der Hecke ihre Kadenzen schmettert.

Ihr Gesang lockt mich näher zu kommen. Doch ich wage mich nur bis zum Nussbaum vor, um die Sängerin nicht aufzuscheuchen. Der Baum wurde letztes Jahr gewaltig gestutzt, weil sein Schatten schon beinahe über den gesamten Garten reichte. Jetzt kann ich leider keinen seiner Äste mehr erreichen um festzustellen, ob er trotz der Radikalkur heuer wieder Nüsse tragen wird.

Mein Streifzug endet in der "kulinarischen Ecke": Auch die Johannesbeeren und Himbeersträucher haben schon winzige Blüten. Ich rechne nach, welche Wochenenden im Juni ich keine Termine habe und daher Zeit im Garten verbringen kann. Es ist jedes Jahr wie ein Fest, wenn ich die ersten frühen Himbeeren selbst ernten kann.

Zufrieden kehre ich ins Haus zurück. Nein, sehen kann ich die Pracht nicht, aber fühlen und riechen und die Bilder, die andere für mich "malen", als Kostbarkeit in meinem Gedächtnis aufbewahren.

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