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Mein iPhone
Das nenne ich Interaktion: Ich tippe an eine Stelle auf dem Bildschirm, und die Sprachausgabe sagt mir, was sich dort befindet.
Der Charme der Vielfalt
04.10.2011
Wie im Beitrag Testen Sie selbst beschrieben, ist die Bedienung des Touch Screen am iPhone auch mittels Sprachausgabe, also blind durchaus möglich. So viel wusste ich beim Kauf des iPhone bereits.
Heute möchte ich einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass die Bedienung nicht nur möglich, sondern sogar extrem komfortabel, vor allem aber intuitiv ist. Gewiss gibt es einige Bereiche in dem Bedienerkonzept, die noch Verbesserungspotenzial bergen, aber auf welches Produkt, ob nun Hard- oder Software, trifft das nicht zu?
Das richtige Werkzeug für (fast) jede Aufgabe
Ich habe keine Ahnung, wie viele der im App Store angebotenen Apps auch tatsächlich mit VoiceOver bedienbar sind. Aber selbst dann, wenn es nur 10 % sein sollten, so handelt es sich immerhin um eine fünfstellige Anzahl. Dieser Umfang an Anwendungen nährt durchaus zu Recht die Hoffnung, bei intensiver Suche ein gut bedienbares Werkzeug für eine konkrete Aufgabe zu finden.
Aber selbst dann, wenn eine Anwendung nur mäßig gut bedienbar ist, wie etwa durch fehlende Beschriftung von Links oder Tasten, haben die meisten Apps ein genau abgegrenztes Einsatzgebiet und somit einen überschaubaren Leistungsumfang. Ein oder zwei unbeschriftete Elemente allein machen daher die App nicht zwingend nutzlos.
Die meisten Apps sind also schon deshalb meist leicht und intuitiv erlernbar, vor allem aber überschaubar. Das macht mir viele der Anwendungen sympathisch, weil ich nicht mit ohnehin nicht benötigten Features erschlagen werde und mir die mühsame Suche der wichtigen Funktionen erspart bleibt; sie werden sozusagen unüberhörbar ins Blickfeld gerückt. Es gibt also wenig Ballast.
Allerdings bringt es diese Philosophie auch mit sich, dass ich, anders als am PC, beinahe für jede Aufgabe eine eigene App installiern muss. Das ist manchmal lästig, hat aber auch den Vorteil, dass ich den Leistungsumfang meines iPhone selbst bestimmen und nicht Benötigtes weglassen kann.
Auf die Aufgaben und Themenbereiche möchte ich hier nicht eingehen. Sie werden Gegenstand späterer Beiträge sein, wenn es darum geht, verschiedene Apps für ein und dieselbe Aufgabe zu vergleichen oder deren Nutzen im Alltag zu beschreiben.
Gut gezielt ist halb gefunden
Stattdessen möchte ich versuchen zu erklären, was genau mich am Konzept des iPhones so fasziniert - abgesehen von dem geradezu erdrückenden Umfang an Anwendungen. Es geht dabei, auch wenn dies auf den ersten Blick paradox wirken mag, um Visualisierung, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinn. Es ist nichts Neues, dass der eigentliche Vorgang des Sehens im Gehirn passiert und das Auge als Werkzeug "nur" die erforderlichen Informationen liefert.
Da ich, wenn auch nie gut, aber doch einmal gesehen habe, gibt es in meinem Kopf viele farbige und lebendige Bilder, und es entstehen auch immer neue. Wenn mir beispielsweise jemand das Hotel an seinem Urlaubsort detailreich beschreibt, so kann ich es mir ungefähr vorstellen. Wie genau dieses Bild (diese Einbildung) der Realität entspricht, ist dabei nicht so wichtig. Wenn Sie selbst etwa eine mündliche Beschreibung einer Urlaubsdestination mit den später nachgereichten Fotos vergleichen, werden Sie vermutlich auch feststellen, dass das in Ihrem Kopf entstandene Bild von der Wirklichkeit abweicht.
Die Bedienung des iPhone wirkt auf mich wie ein interaktives Foto: Ich kann den Aufbau des Bildschirms - zum Glück ist er klein und somit gut überschaubar - durch Berühren erforschen und erhalte prompt die gesprochene Information, was ich gerade im Visier habe. Ich spüre, wie weit das angesagte Element vom linken oder rechten Rand entfernt ist, kann feststellen, wie weit oder eng die Elemente beisammen liegen und wie groß sie sind. Denn beim Bewegen meiner Finger geht die Ansage sozusagen mit. Verlasse ich das Element "Bearbeiten" und berühre ein anderes, so wird dieses gesprochen.
Meist dauert es nicht allzu lang, bis in meinem Kopf eine Art Lageplan entsteht, und zwar auf das Wesentliche reduziert. Dieses "Bild" hat keine Farben, keine Schnörkel und Verzierungen und ihm fehlt daher Ästehtik im üblichen Sinn. Für mich sieht dieses Bild aufgeräumt, übersichtlich, überladen oder manchmal auch chaotisch und unverständlich aus. Aber es ist und bleibt ein Bild, und zwar eines, das mir hilft, Positionen bestimmter Funktionalitäten im Kopf zu behalten und sie gezielt mit meinen Fingern anzusteuern.
Wie das "Zielen" in der Praxis funktioniert, möchte ich an einem einfachen Beispiel festmachen.
Bluetooth ein- oder ausschalten
Bildbeschreibung: Der Einstellungsbildschirm mit fokussiertem Eintrag "Hintergrundbild".
Die Einstellungen befinden sich auf meinem iPhone auf der 1. Seite, in der 1. Reihe an der 3. Position, demnach knapp unterhalb des Hörschlitzes und ein wenig rechts davon. Die Icons am Desktop sind groß genug, um sie zumindest an den vier Kanten mühelos aufzufinden. (Das können Sie bei eingeschaltetem VoiceOver ja selbst leicht testen.)
Der Einstellungsbildschirm ist mir inzwischen recht gut bekannt, und darum weiß ich, dass der letzte Eintrag knapp oberhalb des Home-Knopfes "Hintergrundbild" ist. So wie ich das iPhone halte, ist es einfach, den linken Daumen genau auf diesen Eintrag zu positionieren.
Warum mache ich das eigentlich, werden Sie fragen. Die Antwort ist denkbar einfach: Mit einem Wisch nach rechts gelange ich nämlich zum nächsten Eintrag "Allgemein", in dem sich "Bluetooth" befindet. Damit habe ich insgesamt acht Einträge ganz gezielt übersprungen. Ich verhalte mich also ähnlich wie der Nutzer einer Computermaus.
Bildbeschreibung: Der Bildschirm "Einstellungen / Allgemein" mit fokussiertem Eintrag "Netzwerk".
Auch auf dem Folgebildschirm "wische" ich mich nur selten (etwa in der ruckelnden U-Bahn) bis zu "Bluetooth" durch. Normalerweise lege ich den Daumen etwa in die Mitte des Bildschirms, wo der gesuchte Eintrag ungefähr angezeigt wird. Je nach Handhaltung treffe ich dabei entweder genau auf "Bluetooth" oder lande zumindest aber in unmittelbarer Nähe, wie der Screenshot zeigt. Ich brauche also nur noch einmal nach rechts zu wischen oder - meine bevorzugte Methode - den Finger nach unten zu bewegen.
Diese "geografisch orientierte" Navigationsmethode kommt meinen natürlichen Anlagen enorm entgegen, denn meine Finger brauchen ständig etwas zu tun. Ich brauche Bewegung; das war schon beim Lernen in der Schule so. So wie ich lieber Literatur mit den Fingern lese anstatt mich bequem durch ein Audiobuch berieseln zu lassen; genauso ist es mir lieber, die Orientierung durch unmittelbare Interaktion zu erhalten: Ich warte nur ungern, bis mein Hilfsmittel eine verwertbare Information ausgibt, ich frage es lieber gezielt, was es an Informationen zur Verfügung stellen kann.
Das gilt freilich nicht für das Lesen von langen Texten, die ich mir selbstverständlich von der Sprachausgabe vorlesen lasse, ohne wissen zu wollen, wo genau sich welcher Absatz befindet, sondern vorwiegend für die Steuerung von Menüs und das Erforschen neuer Anwendungen. Ich will auch gar nicht verschweigen, dass diese bevorzugte Methode auch die Gefahr birgt, sehr kleine Elemente zu übersehen. Aber dann kann ich immer noch von meiner "geografischen" in die "strukturierte" Vorgehensweise wechseln, den Finger ganz oben positionieren und mich Element für Element durch den gesamten Bildschirm "wischen".
Die richtige Wahl
Ich habe mich Anfang 2011 für ein iPhone entschieden und weiß nun, dass es für mich die richtige Wahl war. Dennoch möchte ich explizit vor falschen Rückschlüssen warnen, das iPhone sei prinzipiell für blinde Menschen optimal geeignet. Es kann blind optimal genutzt werden, soviel ist sicher richtig, aber es hängt stark vom Menschentypus (auditiver oder visueller Typ) und vom Einsatzgebiet ab. Wer nur telefonieren und SMS versenden sowie gelegentlich surfen möchte, der benötigt grundsätzlich kein Smartphone - ob nun blind oder nicht. Wer aber einen kleinen Ersatz für den PC sucht, der ist mit einem Smartphone gut beraten.
Und das iPhone ist nun mal derzeit das einzige Smartphone am Markt, das ohne Installation einer zusätzlichen Software blind komplett bedienbar ist. Darum ist es für mich inzwischen zu einer schwer verzichtbaren Alltagshilfe geworden, deren Leistungsfähigkeit und Grenzen in dieser Rubrik nach und nach vorgestellt werden soll.
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