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Begegnungen
In absoluter Dunkelheit ist Blindheit für die Orientierung von Vorteil und Sehen wenig hilfreich. Dieser temporäre Rollentausch eröffnet auf beiden Seiten neue Einsichten.
Mit allen vier Sinnen
Februar 2008
"Und wie erkennst du deinen Rucksack wieder? Die fühlen sich doch alle gleich an", will Daniel wissen. "Tja, Köpfchen. Ich habe meinen Schlüsselanhänger dran gehängt." Das triumphierende Grinsen ist aus Christophs Stimme - oder ist es Bernhards? - deutlich herauszuhören; sehen können wir es alle nicht. Ich nicht, weil ich blind bin und die anderen nicht, weil um uns herum völlige Dunkelheit herrscht.
Den vier Fähnrichen des letzten Jahrgangs der Militärakademie scheint ihre vorübergehende Blindheit aber nichts auszumachen, und während sie noch herumalbern, versuche ich mir ihre Stimmen und die dazugehörigen Namen einzuprägen:
Daniel kann ich mir gut merken. Er ist ungefähr so groß wie ich und sein Tiroler Dialekt unverwechselbar. Bernhard und Christoph sind nicht nur annähernd gleich groß, sondern sie haben auch ganz ähnliche Stimmen und kommen beide aus Wien. Außerdem scheinen sie unzertrennlich zu sein. Ich werde sie während der nächsten vier Stunden in dieser Dunkelinstallation sicher ständig verwechseln. Und dann ist da noch Andreas, der Vierte im Bunde, schweigsam und zurückhaltend, sodass ich außer den drei Silben seines Namens bisher noch keinen Eindruck von seiner Stimme bekommen habe.
Truppenübung im Dunkeln
Wir befinden uns auf den Seetaler Alpen, wo der Abschlussjahrgang der Militärakademie eine Truppenübung absolviert. Neben den sonst üblichen Programmpunkten wie Nachtwanderung und Schießübungen sollen die Fähnriche darüber hinaus Strategien entwickeln, wie man auch ohne visuelle Eindrücke mit alltäglichen Aufgaben fertig werden kann. Dazu haben die Organisatoren vier blinde "Guides" eingeladen, einer davon bin ich - die einzige Frau unter all den Männern.
Die Aufgabe der Guides besteht darin, an zwei Tagen vormittags und nachmittags jeweils vier Fähnriche durch das Dunkel zu begleiten und sie über Orientierungstechniken zu informieren, mit Hilfsmitteln für blinde Menschen bekannt zu machen, Fragen zu beantworten und sie im übrigen ihrem Forscherdrang und ihrer Kreativität zu überlassen.
Mit der bekannten und beliebten Rauminstallation "Dialog im Dunkeln" hat dieser Teil der Truppenübung nur zwei Dinge gemeinsam: Er findet in völliger Dunkelheit statt und wir sind auf Dialoge extrem angewiesen, weil es eben im Dunkeln keine visuelle Verständigungsmöglichkeit gibt.
Auf die Strategie kommt es an
Bereits in unserer ersten Station, einem improvisierten Wohnzimmer, stelle ich erfreut fest, wie systematisch die jungen Männer ihre Umgebung erforschen und wie rasch sie Strategien zur Arbeitsteilung entwickeln. "Hey, da liegen DVDs rum. Würde mich interessieren, welche das sind." Pause. "Sehen sich blinde Menschen denn DVDs an", fragt Bernhard (oder Christoph) zögernd. "Ja, schon, soferne es keine Stummfilme sind und sie genügend Dialoge enthalten, um der Handlung auch rein akustisch folgen zu können", erkläre ich und erkundige mich bei dieser Gelegenheit nochmals nach dem Namen des Sprechers.
Inzwischen haben Bernhard und Christoph auf der Couch Platz genommen und beschäftigen sich mit einer tastbaren Europakarte, um sich darauf mit Hilfe ihrer Fingerspitzen zu orientieren. Ich erkläre ihnen kurz die wichtigsten Symbole für Land, Meer, Grenzen und Städte. Die beiden sind jetzt also für eine Weile beschäftigt.
Daniel untersucht inzwischen neugierig die Gegenstände auf dem Wohnzimmertisch. "Andreas?", frage ich in den Raum, und er antwortet sofort und kommt langsam auf mich zu. "Ich hab einen Wecker mit tastbaren Punkten und Zeigern entdeckt", sagt er. "Und wie spät ist es darauf", will ich wissen. Schweigen. "Der Stundenzeiger ist kürzer und breiter als der Minutenzeiger", helfe ich nach. "Dann ist es halb zehn", erklärt Andreas nach einer Weile und drückt mir den Wecker in die Hand. Er hat sich nur um wenige Minuten geirrt.
Daniel hat sich inzwischen zu den beiden anderen gesellt und ihnen die Karte abgenommen. Er will selbst versuchen, sich darauf zu orientieren. Ich rate ihm, nach Italien zu suchen, das an der Stiefelform noch am ehesten zu erkennen ist.
Bernhard und Christoph beauftrage ich, mit dem tastbaren Maßband Höhe und Breite der Türe auszumessen. Sie erledigen das in bewährtem Teamwork und unter lautstarken Witzeleien.
Im Dunkeln schärfen sich die restlichen Sinne
Bei unserer nächsten Station gibt es was zu Schnuppern. Eine Reihe von Flaschen, Gläsern und Dosen stehen zur Auswahl und die Aufgabe besteht darin, mit Bleistift auf einem Zettel zu notieren, was erkannt worden ist. Während ich mir noch überlege, wie sie das Problem lösen werden, bei ihren Notizen nicht ineinander zu schreiben, beginnt Andreas bereits seinen Zettel so zu falten, dass mehrere annähernd gleich hohe fühlbare Kanten entstehen. Jetzt muss er sich noch merken, welche der Zeilen bereits beschrieben ist. Ein leises "Ratsch" verrät mir, dass er das Papier eingerissen hat.
Nach der Übung sammle ich die Bleistifte wieder ein und stecke sie in die Hülle zurück. Wir ziehen weiter zur nächsten Station.
Bereits von weitem ist lauter Verkehrslärm zu hören, wenn auch nur aus etlichen Lautsprechern. Wir nähern uns einer Straßenszene mit Markt. Dort stehen Körbe mit Früchten herum, die es zu erkennen und wiederum zu notieren gilt. Bei dieser Geräuschkulisse wird rasch klar, dass sowohl Orientierung als auch Kommunikation deutlich schwieriger sind. Selbst das Duo Bernhard und Christoph, bis jetzt so experimentierfreudig, steht plötzlich rum, und Daniel ist mir vorübergehend abhanden gekommen.
Während ich Andreas, Bernhard und Christoph mit Früchten, Zettel und Bleistift beschäftigt weiß, mache ich mich auf die Suche nach Daniel und finde ihn am Boden vor einem abgestellten Fahrrad kauernd, das er offenbar auf Funktionstüchtigkeit untersucht.
Nachdem ich alle wieder versammelt habe, mache ich sie mit der Situation an einer stark frequentierten und ampelgeregelten Kreuzung vertraut und erkläre, dass wir bei grün, also wenn der Verkehrslärm deutlich nachlässt, die Straße überqueren werden. Das klappt recht gut. Aber ich habe es ja auch mit Leuten zu tun, die schon Erfahrung mit Orientierungsaufgaben haben, wie ich inzwischen weiß.
Wir verlassen erleichtert die lärmende Stadt und kommen in den Park. Dieser ist durch den weichen Untergrund, die vereinzelten Büsche und das Vogelgezwitscher leicht erkennbar. Hier sollen am Boden liegende Gegenstände gefunden werden - eine staubige und keineswegs leichte Aufgabe. Meine vier Strategen verteilen sich im Raum und durchsuchen ihn systematisch. Der Aufklärer Daniel hat wieder die Nase vorn und findet drei der vier versteckten CDs. Sie sind ohne Hülle und daher besonders schwer in dem weichen Boden zu finden.
Informationshunger und Wissensdurst
Da ist die nächste Station, eine Bar, schon deutlich entspannender, auch wenn die Fähnriche dem bei mir bestellten Kaffee Milch und Zucker selbst hinzufügen müssen. "Bitte, macht keine zu große Sauerei. Ich muss die Bar möglichst sauber hinterlassen", stelle ich meine Forderung.
Während ich die riesige Militär-Kaffeemaschine "melke", Kuchenstücke auf Pappteller lege und Mineralwasser oder Saft eingieße, werden endlich die lang aufgestauten Fragen gestellt. Da geht es um so praktische Themen, wie man Geld erkennt, sich nicht beim Kochen verbrüht, den Weg durch die Stadt findet oder Ordnung in die CD-Sammlung bringt; aber auch um Berufsmöglichkeiten, Freizeitgestaltung, Urlaub sowie Partnerschaft und Kinder.
Organisation, Selbstständigkeit und Geschicklichkeit auf dem Prüfstand
Langsam müssen wir weiter zur nächsten Station, und zwar in die Duschen. Jetzt wird sich herausstellen, ob Bernhard und Christoph - ich kann sie immer noch nicht mit Sicherheit auseinanderhalten - ihre Rucksäcke wiederfinden und auch erkennen. "Ist doch ganz einfach", lässt sich da Andreas vernehmen. "Dieses Haus ist genau spiegelverkehrt zu dem Gebäude nebenan. Wir haben unsere Rucksäcke in der Nische dem Eingang gegenüber abgestellt." Schweigen. "Dann geh mal voraus", lässt sich Bernhard vernehmen, und wir alle folgen Andreas. Überflüssig zu erwähnen, dass er die Rucksäcke zielsicher aufgespürt und sogar richtig verteilt hat. Gratulation!
Inzwischen gehe ich meiner Gruppe längst nicht mehr voraus, sondern versorge sie bloß noch mit den wichtigsten Informationen. "Den Gang entlang, erste Tür links", sage ich, und der Trupp setzt sich gehorsam in Marsch.
Im Vorraum zu den Duschen legen sie ihre Rucksäcke ab, während ich an der offenen Tür Posten beziehe. So lautet meine Anweisung: Immer in Rufweite bleiben - für alle Fälle. Aber weiter vor wage ich mich selbstverständlich nicht. Das hier ist schließlich keine Damendusche, worauf mich natürlich prompt einer der jungen Herren aufmerksam macht.
Unter vielen scherzhaften Bemerkungen beginnt die erste Dusche zu prasseln, gefolgt von einem Aufschrei. "Hast wohl den Kaltwasserhahn erwischt", lässt sich Daniel vernehmen, der erstaunlicherweise nicht mehr die Aufklärerrolle innehat. "Der rote ist der Warmwasserhahn", mische ich mich ein und versuche vergeblich, mein Grinsen zu unterdrücken. "Sehr witzig", grummelt es aus der Dusche, während die anderen in Gelächter ausbrechen.
Als der Erste aus der Dusche kommt - jetzt ist es wieder Daniel, der Vorreiter (war der aber schnell!), begleite ich ihn zur nächsten Station. Hier muss er einen Hindernisparcours bewältigen: Zuerst geht es eine Rampe hoch, danach über ein paar Stufen noch höher, dann wieder hinunter und nochmals hinauf. Sodann betritt er eine bedenklich schwankende Brücke aus einem Lattenrost. Hier zögert er kurz und setzt dann seinen Weg fort. Weiter geht es wieder über Unebenheiten und Stufen, mal hinauf, mal hinunter. Die Strecke endet an einer Kante, über die er hinunterspringen soll - ein seltsames Gefühl, wie ich von unserem Probedurchgang her weiß, weil man keine Ahnung hat, wie tief man springen wird. Für Daniel und seine Kameraden ist das jedoch ein Kinderspiel, wie sich herausstellt.
Antreten zum Mittagessen
Als krönenden Abschluss gibt es natürlich auch etwas zu essen - noch immer in völliger Dunkelheit, versteht sich. Nur der Gefreite bei der Essensausgabe trägt ein Nachtsichtgerät. Jeder holt sich sein Essen selbst, muss zu dem von mir bezeichneten Tisch finden, sein Essen abstellen, einen freien Platz finden und schließlich mit Messer und Gabel hantieren.
Jetzt zeigt sich, dass wir inzwischen ein zusammengeschweißtes Team sind. Als wir uns nacheinander aus dem Glaskrug unsere Plastikbecher vollgießen, klappt die Kommunikation perfekt. Ja, es wird nicht einmal daneben gegossen. Der Krug wird mit entsprechenden Hinweisen von Hand zu Hand weitergereicht und die gefüllten Becher hinter die Teller gestellt.
Unsere Gespräche drehen sich um Alltagsthemen, wenn auch immer mit Bezug auf die Tatsache nicht sehen zu können. Es gibt viele Fragen, freimütig gestellt und ebenso freimütig beantwortet.
Während ich mich mit dem neben mir sitzenden Andreas über die Möglichkeiten unterhalte, wie blinde Menschen am Computer arbeiten, kann ich nicht verhindern, mit halbem Ohr auf Bernhard und Christoph zu hören, die herumalbern: "Wie schmeckt dir die Wurst?", will Bernhard wissen. "Ich such sie noch", kommt Christophs zögernde Antwort. Bernhard lacht: "Willst sie wieder haben? Die hab ich dir nämlich geklaut."
Hinaus in den Sonnenschein
Nach dem Essen begleite ich meine Vier noch zum Ausgang, obwohl sie zweifellos den Weg inzwischen alleine finden würden. Ich empfehle ihnen, im schützenden Halbdunkel zwischen Eingangstür und Windfang noch eine Weile stehen zu bleiben, damit sich die Augen nach fast vier Stunden Dunkelheit wieder langsam an das Licht gewöhnen können. Trotzdem empfinden alle die strahlende Wintersonne, die uns draußen empfängt, als schmerzhaft.
Meine Aufgabe als Guide im Dunkeln ist damit beendet; die Rollen sind wieder normal verteilt. Andreas, Bernhard, Christoph und Daniel - die Namen habe ich übrigens verändert - wissen jetzt eine Menge darüber, wie blinde Menschen ihren Alltag organisieren können. Ich nehme im Austausch dafür die Bestätigung mit nach Hause, dass sich mit den richtigen Strategien, einer guten Portion Forscherdrang, Wachsamkeit und vor allem viel Teamgeist so manche schwierige Situation leichter bewältigen lässt, als man denkt.
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