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Die Menschen wissen so viel oder so wenig über mein Leben mit Behinderung, wie ich bereit bin mitzuteilen und sie bereit sind mir zuzuhören.

Zwischen Mitleid und Bewunderung

27.09.2010

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Von frühester Kindheit an habe ich lernen müssen, mit den veränderten Lebensumständen aufgrund meiner starken Sehbehinderung klar zu kommen. Als das bisschen Sehvermögen immer weniger wurde, war dies ohne Zweifel ein geradezu traumatischer Einbruch. Es macht einen gewaltigen Unterschied, den Eingang in ein Geschäft, wenn auch verschwommen, so doch mit den Augen wahrzunehmen, oder nur zu wissen, dass "hier irgendwo" ein Eingang sein müsste.

Verständlicherweise ist darum die Reaktion der Menschen auf "bloße" Sehbehinderung auch eine ganz andere als auf vollkommene Blindheit. Wenn ich früher vor einem Geschäftseingang stand und einen Passanten bat, mir die verschnörkelte Schrift vorzulesen, weil "ich sehr schlecht sehe", stieß ich fast immer auf Verständnis. Locker, ja oft sogar im Plauderton, kamen Reaktionen wie "Wenn ich meine Brille vergesse, bin ich auch fast blind."

Seit ich gar nichts mehr sehen kann, hat sich auch die Reaktion meiner Umwelt verändert. In unserer auf visuelle Wahrnehmung ausgerichteten, ja oft darauf reduzierten Umgebung - wie etwa bei Leuchtschriften ohne akustische Ansage - wissen eben viele nicht so recht, wie sie wichtige Informationen kommunizieren sollen, wenn die gestenreich ergänzten Erläuterungen nicht oder nur unvollständig wahrgenommen werden können.

Und dann kommt es wie eine kalte Dusche über mich: Diese Hilflosigkeit über die fehlende Kommunikationsbasis, die sich, je nach Charakter und Erfahrung, in Bedauern, Mitleid oder Mitgefühl äußern kann. Ich gebe es zu: Trotz jahrelanger Übung gibt es sehr wohl Tage, an denen ich mit dieser Reaktion auf meine Behinderung ebenso wenig klar komme wie meine Umwelt mit meiner Behinderung.

Ich möchte dieses Unbehagen an einem Vergleich zu erklären versuchen: Wenn Sie zwei schwere Koffer haben und in einen Zug einsteigen möchten, dann haben Sie ziemliche Mühe. Wie würden Sie reagieren, wenn jemand vorbei kommt und zu Ihnen sagt: "Ach, Sie Armer, müssen sich so abschleppen", mit den Schultern zuckt und seines Weges geht?

So ähnlich fühle ich mich, wenn mich statt ganz praktischer Hilfestellung pure Hilflosigkeit in Form von Mitleid überflutet. Das hilft eben nicht weiter - weder mir noch dem wohlmeinenden Gegenüber.

Andere wiederum brechen in geradezu verzückte Bewunderungsäußerungen aus, weil sie sich nicht vorstellen können, wie man mit Blindheit im Alltag überhaupt zurecht kommen kann. Auch damit kann ich nur mäßig umgehen, denn solche Bekundungen sind mir geradezu peinlich: Mir bleibt ja gar nichts anderes übrig, als mit schwierigen Alltagssituationen irgendwie fertig zu werden.

Zur Verdeutlichung des "Nachgeschmacks" solch unangebrachter Bewunderung greife ich nochmals auf das obige Beispiel mit den beiden Koffern zurück. Wie würde Ihnen diese Reaktion gefallen? "Ich finde es toll, wie Sie mit den beiden schweren Koffern zurecht kommen!"

Ja, ich weiß: Jeder Vergleich hinkt, und dieser sogar gewaltig. Die Emotionen sind jedoch durchaus vergleichbar: Man fühlt sich missverstanden und würde statt der durchaus wohlmeinenden Bekundung der Anteilnahme ein wenig praktische Hilfe bevorzugen. Aber dankenswerterweise erfahre ich diese auch meist - genauso, wie Reisenden mit schwerem Gepäck häufig geholfen wird.

Sich mit schweren Koffern abzuschleppen, ist ziemlich alltäglich, Blindheit jedoch nicht. Darum ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die meisten Menschen wenig oder keine Erfahrung im Umgang mit blinden Menschen haben und nicht wissen (können), wie es sich mit dieser Behinderung lebt. In den Köpfen vieler hält sich deshalb auch hartnäckig die Vorstellung purer Tristesse angesichts des herben Verlustes visueller Eindrücke und der damit verbundenen Einschränkungen. Diese Einschränkungen sind unleugbar vorhanden, aber sie drücken keineswegs 24 Stunden aufs Gemüt. Wir Menschen müssen uns eben mit unseren Lebensumständen irgendwie arrangieren - auch wenn diese durch eine Behinderung zusätzlich erschwert werden.

In meinem Beitrag Mein halb volles Glas versuche ich mitzuteilen, wie ich dem Leben mit all seinen Schwierigkeiten, vor allem aber den schönen Seiten begegne. Ihm sozusagen "ins Auge blicke", darauf zugehe und es bewusst zu formen und zu gestalten versuche, soweit ich eben Einfluss darauf habe. Denn haben nicht alle Menschen dasselbe Ziel, nämlich ein sinnvolles, eigenverantwortlich gestaltetes Leben zu führen, in dem auch Raum für Freude und Glück ist?

Vielleicht findet der eine oder andere Leser ja auf diesen Seiten einen Anknüpfungspunkt, um sein eigenes Leben mehr von der Haben- als von der Sollseite zu betrachten.

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1 Kommentar

  1. Gerald Pachlatko schrieb am Mittwoch, 20.10.10 16:38 Uhr:

    Der Vergleich hinkt überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil! Wenn auch nur kurzfristig, so sind die schweren Koffer meine Behinderung. Der heutige Mensch, sei er nun sehend oder kofferlos, ist aber an sich schon behindert: durch mangelnde Kommunikationsfähigkeit, durch praktische Hilflosigkeit, durch eine unbestimmte Scheu im Umgang mit anderen Menschen (die möglicherweise aus den beiden ersten erwächst) - seien diese nun behindert oder nicht. Vor einigen Jahrzehnten wäre bald jemand stehen geblieben, hätte seinen Hut gelüpft und Dich höflich gefragt: "Kann ich helfen, gnä' Frau?" Du hättest gelächelt und geantwortet: "Das ist aber nett" oder auch "Danke, sehr nett, aber es geht schon." Ob nun praktische Hilfe oder nicht, die Begegnung wäre beidseitig wohlgefällig betrachtet worden. Es ist traurig, dass viele gerade nur so viel Mut aufbringen, rasch ihr Mitleid zu bekunden. Man müsste eigentlich Mitleid mit jenen haben. "Los, trauen Sie sich ruhig, und halten Sie mir die Tür auf. Keine Angst, das wird schon." Es ist bewundernswert, wenn sich ein blinder Mensch in unserer Welt geschmeidiger bewegt als manch sehender. Kein Grund, peinlich berührt zu sein.

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