Sie sind hier:
Lernen
Es war eine schwierige und schmerzvolle Entscheidung für meine Eltern, als sie die Weichen für meine Schulbildung in einer Schule für blinde Kinder stellten. Für die 60er Jahre, als es noch kaum Erfahrung mit Integration gab, war sie aber richtig - und für mich auch.
Diagnose: Fast blind, aber bildungsfähig
1960 - 1961
Ich war fünfeinhalb, als ich mein erstes Lesebuch bekam. Ich liebte es sehr und das sah man ihm sehr bald an, denn ich schleppte es überall hin mit.
Als mir meine Eltern dieses Buch schenkten, hatten sie keineswegs die Absicht, aus mir ein besonders kluges Kind zu machen. Sie waren nur der Empfehlung des Arztes gefolgt rechtzeitig herauszufinden, ob mein Sehvermögen ausreichen würde, um die Dorfschule besuchen und auch erfolgreich abschließen zu können.
Auch heute sehe ich die ersten Seiten des Buches noch deutlich vor mir. An das Bild auf dem Umschlag erinnere ich mich interessanterweise nicht mehr und musste ihn mir daher beschreiben lassen, als ich das 50 Jahre alte Erinnerungsstück hervorkramte.
Auf den ersten Seiten war auf der oberen Hälfte jeweils ein Bild und darunter ein kurzer Text in übergroßen Buchstaben.
Bald konnte ich diese Texte nicht nur lesen, sondern auswendig hersagen.
Doch je weiter ich in dem Buch nach hinten blätterte, desto kleiner wurde die Schrift. Etwa nach dem ersten Drittel des Buches war nur noch auf der linken Seite ein Bild, darunter der Beginn eines Textes, der sich auf der ganzen rechten Seite fortsetzte, wobei die Schrift auf der rechten Seite deutlich kleiner war als auf der linken. Den kurzen Abschnitt auf der linken Seite konnte ich lesen, den der rechten nicht mehr.
An eine Geschichte erinnere ich mich noch heute; es handelte sich um ein Rätsel: Etliche Lebensmittel waren abgebildet und im Dialog zwischen Mutter und Sohn sollte dieser erraten, was denn da zubereitet wird. Sogar ein einzelner Satz ist mir noch im Wortlaut in Erinnerung: "Vorne hat er ein A und hinten ein L ..."
Woran ich mich ebenso deutlich erinnere, ist die Mühe, die es mich kostete, den Text auf den folgenden Seiten zu entziffern. "Streng deine Augen nicht so an", mahnte mich meine Großmutter immer wieder - allerdings vergeblich. Denn wer hört schon freiwillig mitten in einer Geschichte auf zu lesen?
Bis an die Grenze gehen
Alle Texte, die dahinter kamen, waren für mich viel zu klein gedruckt. Ich gab mir Mühe, konnte wohl ein paar Wörter entziffern, aber hier war für mich Endstation.
Als Juli-Geborene wurde ich dennoch versuchsweise mit sechs Jahren mit den anderen Jahrgangskollegen eingeschult. Meiner sehr verständigen Klassenlehrerin ist es zu danken, das sie in ebenso eindringlichen wie klugen Worten meine Eltern davon überzeugen konnte, dass ich mit meinem geringen Sehvermögen immer Mühe haben würde dem Unterricht zu folgen, in einer Spezialschule für blinde Kinder aber die meiner normalen Begabung entsprechende Förderung erhalten könnte. Wie mir meine Eltern später erzählten, hatte sie bereits damals auf die Problematik der Berufsausbildung hingewiesen.
Gleichwertig ist nicht identisch
Meine Eltern mussten akzeptieren, dass sich meine Schulbildung deutlich anders gestalten würde als die der übrigen Dorfjugend. Ich kam während meiner gesamten Schulzeit nur zu den Wochenenden und während der Ferien nach Hause - eine Herauslösung aus der Dorfgemeinschaft, die einer Entwurzelung gleich kam und zur Folge hatte, dass ich kaum noch Kontakt zu Gleichaltrigen hatte.
Im Gegenzug für diesen Verlust erhielt ich die Chance meines Lebens. Nämlich die Chance auf eine adäquate Ausbildung mit anderen, auf meine Bedürfnisse speziell zugeschnittenen Methoden und Techniken, mit einer Schrift aus Punkten, mit angepasstem Unterrichtsmaterial und vor allem der Möglichkeit, aufgrund meiner Behinderung nicht ständig hinter dem Niveau der anderen zurückzufallen.
Meine Schulzeit bestand nicht aus behinderungsbedingten Niederlagen und dem damit einhergehenden Gefühl, nicht so gut wie die anderen zu sein. Vielmehr lernte ich leicht und gern und die Ursache für die seltenen Misserfolge lagen nicht in meiner Behinderung, sondern in mangelndem Fleiß.
Diese Freude am Lernen und Forschen ist mir bis heute geblieben - vielleicht gerade darum, weil Methodik und Lernmaterial an meine speziellen Bedürfnisse angepasst waren und Lernen für mich daher nicht mit allzu großer Mühe verbunden war.
Spannungsfeld Sonderschule - Integration - Inklusion
Mein Schuleintritt war Anfang der 1960er Jahre, als es kaum Erfahrungen mit Integration, geschweige denn Inklusion gab. Hilfsmittel, Methodik und Infrastruktur haben seither einen starken Wandel erfahren und was vor fast 50 Jahren gut und richtig war, muss heute nicht mehr zutreffen. Ich stehe aber nach wie vor dazu, dass meine Schulzeit in einer Sonderschule fruchtbringend und zielführend war, spreche jedoch keinesfalls die Empfehlung aus, heute genauso zu verfahren.
Aber genau darum, weil der Schulalltag blinder Kinder vor einem knappen halben Jahrhundert so ganz anders ausgesehen hat als heute (es gab weder Computer noch Stützlehrer), möchte ich meinen Lesern einen Einblick in die damaligen Lehr- und Lernmethoden geben. Die meisten der damals verwendeten Unterrichtsmaterialien sind heute nicht mehr im Einsatz, ja oft nicht einmal mehr bekannt.
Zu diesem Artikel gibt es leider noch keine Kommentare.
Einen Kommentar zu diesem Artikel schreiben:
Ich behalte mir vor, Einträge wider die guten Sitten oder den guten Geschmack zu entfernen, möchte meine Leser jedoch ausdrücklich zu themenbezogenen Kommentaren oder Fragen ermutigen.