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Wie gut ich doch verstehe, dass Kinder alles anfassen müssen!

Berliner Impressionen
Architektur im Miniaturformat

Juli 2014

Zu den (2) Kommentaren

Wir vier sehbehinderten Besucher folgen Frau B. zum ersten Objekt, dem Frankfurter Tor. "Die Auswahl der Gebäude erfolgte nicht ausschließlich aus ästhetischer Sicht", erklärt unsere Begleiterin. "Bei der Entscheidung war es auch wichtig, für die Region besonders typische Exemplare zu wählen — und sie müssen auch vom Maßstab her passen", fügt sie noch hinzu.

Schon bei der ersten Berührung beschleicht mich der Gedanke, dass weder Zeit noch mein Aufnahmevermögen ausreichen werden, um die vielen Details zu erfassen und — noch schwieriger — diese zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Die Finger erfassen eben immer nur ein Detail nach dem anderen, wie bei einem Puzzle mit Tausenden von Einzelteilen, die dann im Kopf zu einem Gesamtbild zusammen gefügt werden müssen.

Nicht genug damit, das gesamte Tor erkunden zu müssen, nein, auch die sich anschließenden Gebäudeflügel stehen hier, weil sie — so Frau B. — eben einen typischen Baustil repräsentieren. Ich weiß gar nicht, was ich zuerst unter die Finger nehmen soll und bin dankbar, dass ich auf viele Details bewusst aufmerksam gemacht werde. Im Weitergehen ist mir nur zu deutlich bewusst, dass ich mir eine Strategie zurechtlegen muss, damit die Erforschung nicht zu einem Informationsstress ausartet.

Das Brandenburger Tor

Darum bin ich froh, dass mir das nächste Gebäude wenigstens in den Grundformen bekannt ist. Ich möchte jetzt nicht den Fehler begehen zu beschreiben, wie das Brandenburger Tor aussieht. Für alle Leser, die sich aus Worten ein Bild erarbeiten möchten, empfehle ich die Beschreibung auf "Berlin für Blinde". Ich finde sie einfach nur genial als Gedankenmodell. Dass ich jetzt die Chance habe, nicht nur das Bauwerk, sondern auch die Quadriga unter die Finger zu nehmen, lässt mein Erforscherherz höher schlagen.

Modell Brandenburger Tor

Ich möchte jedoch etwas hinzufügen, was mich extrem fasziniert hat. Jedes der vier Pferde der Quadriga hat eine ganz eigene Körperhaltung. Vermutlich lässt sich das auf Abbildungen ansatzweise auch erkennen. Auf mich wirkten die Pferde so dynamisch und lebendig, dass ich mich nicht gewundert hätte, wenn sich eines bewegt hätte. Auch die unglaubliche Feinheit der Zügel hat es mir angetan. Wie kann man nur so zarte Gebilde schaffen, und wie überstehen sie das oft raue Klima? Das Gelände liegt ziemlich ungeschützt.

Auf meine diesbezügliche Frage erzählt Frau B., dass die heftigen Niederschläge der letzten Tage einen Großteil der Elektrik lahmgelegt haben und erst einmal umfangreiche Reparaturarbeiten anstehen.

Die Gedächtniskirche

Modell Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche

Auch bei der Gedächtniskirche verweilen wir und lassen uns erklären, dass die vielen kleinen Fenster hinter den Gittern am neuen Turm einzeln bemalt wurden. Die Ruine hebt sich für mich klar und deutlich von den beiden Neubauten ab, und die Erläuterungen von Frau B. helfen, das Bild zu komplettieren, weil sich mit den Händen nicht alles rasch genug erfassen lässt.

Tischmodell Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche

Hier fällt es mir deutlich leichter, das Gesamtwerk im Kopf zusammenzufügen. Es ist nicht ganz so groß, und vor allem habe ich bereits vor vielen Jahren ein sehr handliches Modell von ca. zehn mal vier Zentimeter Grundfläche geschenkt bekommen, was zwar nicht die Erforschung von Details ermöglicht, sehr wohl aber einen guten Gesamteindruck vermittelt, weil es mit zwei Händen komplett umfasst werden kann. Und dieses Modell lässt mich auch sofort verstehen, warum die Berliner — typisch Herz mit Schnauze — die Gedächtniskirche "Lippenstift und Puderdose" nennen. Auch die Bezeichnung "hohler Zahn" für die Ruine klingt einleuchtend. (Auf die eigenwilligen und oft sehr treffenden Spitznamen (= Berolinismus) für Berliner Gebäude komme ich später nochmals zurück.)

Das Reichstagsgebäude

Modell Reichstagsgebäude Rückansicht

Dieses Gebäude ist viel zu groß, als dass wir wirklich alles erforschen könnten. Um mir einen Begriff der Gesamtkonstruktion zu machen, umrunde ich es einmal. Na, da kommt ja einiges auf mich zu.

Auf den Stufen vor dem Gebäude sind sogar Leute — ganz so wie in der Realität. Aber ständig in gebückter Haltung oder in der Hocke nach all den Details zu fahnden, finde ich ziemlich anstrengend. Darum wechseln wir auf die meist wenig beachtete Rückseite des Gebäudes, wo es ebenfalls unzählige Einzelheiten zu entdecken gibt: Hier ein Soldat mit Dreispitz, dort einer mit einer Lanze. Um die Ecke zwei Frauengestalten: der einen streckt ein Kind ein Buch entgegen, um vorgelesen zu bekommen, die andere trägt ein Kreuz. Beide symbolisieren die Themen Bildung und Glaube, die üblicherweise von den Müttern an ihre Kinder weitergegeben werden. An der Ecke fasziniert mich eine Frau, die eine Spindel trägt. Sogar der aufgewickelte Faden ist zu fühlen; hinter ihr sind eine ganze Reihe Ballen Wolle zu erkennen. Es ist unglaublich, mit welcher Akribie hier gearbeitet wurde! Und dann die vielen Ornamente, die Umrandungen auf den Terrassen, die Giebelchen und nicht zuletzt die Sonnenkollektoren. Wie soll denn aus all diesen Einzelheiten das Reichstagsgebäude in meinem Kopf zusammengefügt werden?

Erforschen auf eigene Faust

Wir bleiben auch nach der offiziellen Führung noch eine ganze Weile. Hannes zückt seine Kamera und macht sich auf Fotosafari. Er ist ein wenig enttäuscht, dass er wegen des schon tieferen Sonnenstandes einige der begehrten Objekte nicht seinen Ansprüchen gemäß fotografieren kann. Außerdem entdeckt er immer wieder neue Gebäude, während wir herumschlendern. Oft genug erkennt er das Objekt schon von Weitem; dann wieder sucht er nach der Tafel um herauszufinden, worum es sich handelt.

Meine linke Ferse schmerzt inzwischen, und mein Kopf ist angefüllt mit vielen Puzzleteilchen, die sich nur widerwillig zu einem Gesamtbild fügen wollen. Daher mache ich auf einer Bank Rast, während Hannes weiter auf "Fotopirsch" geht.

Dann ziehen wir wieder gemeinsam los. Nicht bei allen Objekten kann man nahe genug heran, um sie unter die Finger zu nehmen. Leider kommen wir wegen des umgebenden Wassergrabens nicht an das Schloss Köpenick heran; doppelt schade, weil uns unser morgiger Ausflug nach Köpenick führen wird.

Aber es gibt unter den bisher 80 Objekten genug zu bestaunen. Ich betaste begeistert die vielen liebevoll angebrachten Details an Bauwerken, die wir bisher noch gar nicht bewundert haben. Es ist sehr zeitaufwändig, mit den Fingern ein Objekt zu erfassen. Je größer diese sind, desto schwieriger finde ich es auch, mir anhand der enorm vielen Details ein annäherndes Bild der gesamten Konstruktion zu machen.

Modell Sechserbrücke

Fast wären wir an dem netten Modell der Sechserbrücke vorbei gelaufen, weil sie ein wenig außerhalb von Hannes' Blickfeld ist. Wie gut, dass ich Jeans trage. Ich knie mich einfach auf den Boden, um die Konstruktion dieser Fußgänger-Bogenbrücke näher zu untersuchen. Sie ist klein genug, um mir ein gutes Bild machen zu können. Von großem Vorteil ist dabei auch, dass Hannes mich auf die charakteristischen Merkmale zum Bautechnik hinweisen kann. Er versteht davon eine ganze Menge — im Gegensatz zu mir.

Wer sehen kann und jetzt Lust auf einen virtuellen Rundgang bekommen hat, hat vielleicht Freude an dem interaktiven Lageplan der Objekte im Modellpark.

In der Werkstatt

Als Abschluss dürfen wir noch einen Blick in die Werkstatt werfen, wo all die wundervollen Modelle entstehen. Momentan wird an den Kindl-Bühnen gearbeitet. Auf den Tribünen sitzen Leute, und auf der Bühne stehen bereits ein Schlagzeuger und der Gitarrist mit Backstage-Sängern. Ich kann mich gar nicht losreißen.

Modell Jüdisches Museum

Hier kann ich auch ein kleines Modell des jüdischen Museums abtasten, dessen Form sich mir beim Erkunden des größeren Modells nicht so recht erschließen wollte.

Auf dem Rückweg

Die Zeit ist wie im Flug vergangen, und der Park wird geschlossen. Frau B. bietet an, uns zur Straßenbahn zu begleiten, aber Hannes kennt den Weg und lehnt dankend ab. Aber dann meint Frau B., sie könnte uns ja auch mit dem Auto mitnehmen; so könnten wir uns auf der Fahrt noch weiter unterhalten. Wir nehmen dankend an. Und während Hannes noch viele Fragen stellt, die sich — wie könnte es anders sein — mit der Geografie Berlins befassen, versuche ich, wenigstens einiges schriftlich festzuhalten aus Angst, die vielen Eindrücke könnten mir entgleiten.

Als wir das Auto bei einer U-Bahnstation verlassen, muss es schnell gehen, denn hier darf man nicht halten. Im Stationsgebäude zücke ich erst einmal mein iPhone, um den Abfahrtsmonitor zu befragen, wo wir eigentlich sind und welche U-Bahn hier fährt. Das ist rasch herausgefunden. Aber selbst wenn ich keine technische Unterstützung gehabt hätte — Hannes konnte in der dunklen Station nach dem grellen Sonnenlicht überhaupt nichts wahrnehmen — hätten wir Hilfe bekommen. Die Verkäuferin des Blumenladens sieht uns mitten in der Halle stehen und fragt, ob sie uns helfen kann. Ich erzähle ihr, was ich herausgefunden habe: Mit der U7 Richtung Spandau, am Bundesplatz in die U9 umsteigen, mit der es dann bis Steglitz geht. Sie ist sichtlich beeindruckt, fügt aber noch hinzu, dass wir auch ab Yorckstraße die S1 nehmen könnten. Das möchten wir nicht, weil uns diese Umsteigestelle eher unsympathisch ist. Jetzt wollen wir auf dem bequemsten Weg nach Hause, duschen, etwas essen und den Tag Revue passieren lassen.

Mein Kopf ist müde. Er ist angefüllt mit unglaublich vielen Puzzle-Teilen, mit Säulen und Rosetten, mit Giebeln und Türmchen, und ich versuche, wenigstens einiges davon festzuhalten. Denn die Erinnerung ist nur allzu flüchtig und ich kann sie ja nicht durch Bilder auffrischen. Umso wichtiger ist es für mich, die wunderbaren Eindrücke so vieler architektonischer Werke und die liebevoll und detaillierte Gestaltung der Modelle teilweise schriftlich festzuhalten und als glückliche Erinnerung zu konservieren.

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2 Kommentare

  1. Dietmar Liste schrieb am Donnerstag, 04.08.16 11:43 Uhr:

    Ich bin sehr beeindruckt von deiner Beschreibung. Durch Fritz Weissharts Homepage kam ich hier her. Durch Uli Strempels Sprachsynthese bei seiner Etex AG bin ich sensibilisiert. Auch habe ich eine meiner Seiten nach einer Vorlage von Fritz barrierefrei gemacht. Für jemand ohne Sehbehinderung ist es ja kaum vorstellbar wie die Wahrnehmung einer bzw. eines Blinden funktioniert. Als ich dann las, wie Bauwerke erkundet werden können, ohne sie zu sehen, bekam ich Gänsehaut. Danke.
    Dietmar

  2. Eva schrieb am Samstag, 06.08.16 10:32 Uhr:

    Hallo Dietmar,
    Vielen Dank für deinen Kommentar. Ich versuche so gut es geht mir die Welt mit meinen Methoden zu erschließen und bin froh um so manche moderne Technik, die mir das erleichtert. Und dann versuche ich eben auch darüber zu informieren.

    Fritz sagt immer, dass er "accessibility-verseucht" ist, und ich freue mich, dass er dich "angesteckt" hat. Das Web ist eine der bedeutendsten Informationsquellen für mich und je besser die Webseiten gestaltet sind, desto leichter wird die Recherche.

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