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2003 war zum "Jahr der Menschen mit Behinderung" proklamiert worden. Absichtserklärung oder ein Konzept für die Zukunft?

Orchesterprobe und Ouvertüre

Jänner 2004

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Stühle werden gerückt, ein Geiger sucht verzweifelt nach dem Bogen, der Oboist bückt sich und sammelt die Partitur ein, die vom Notenständer gefallen ist und sich malerisch über das Parkett verteilt hat.

Und zwischen all dem Wirrwarr hebt der Dirigent seinen Taktstock zum Einsatz, den - wie bei manchen Proben üblich - eine erstaunliche Anzahl der Ausführenden verpassen. Andere sind wohl mit Eifer dabei, machen aber durch in den Noten nicht vorgesehene Misstöne auf sich aufmerksam und jene, die offenbar erst später ihren Einsatz haben, widmen ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen als dem Stück, das geprobt wird. Bei diesem Stück handelt es sich weder um eine Mahler-Symphonie noch eine Wagner-Oper.

Das Werk, das hier geprobt wird, heißt Chancengleichheit für alle in unserer Gesellschaft. Es handelt von der Beseitigung und Vermeidung von Barrieren, von der Bewusstseinsbildung über Bedürfnisse und Möglichkeiten behinderter Menschen und nicht zuletzt von einem unbefangenen und praxisorientierten Umgang mit Menschen und Situationen, die nicht ganz dem Durchschnitt entsprechen.

Sorgfältige Vorbereitung

Aber die Liebe zur Musik und das Beherrschen eines Musikinstruments allein sind noch kein Garant für einen harmonischen Zusammenklang eines Orchesters.

Diese Erfahrung lässt sich mit geringen Einschränkungen mühelos auch auf unsere Gesellschaft anwenden, die sich im abgelaufenen Jahr die schwere Aufgabe gestellt hat, Barrieren in allen Lebensbereichen aufzuspüren und möglichst auch zu beseitigen. Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, bedarf es mehr als sozialen Engagements und guten Willens.

So wie der Musiker die Partitur erst studieren und proben muss, so stellen sich auch die Initiatoren der zahlreichen Projekte zum Wohle behinderter Menschen der Herausforderung, deren Bedürfnisse, Möglichkeiten und die vorhandenen Barrieren von Grund auf kennen zu lernen. Und genau wie bei schwierigen Passagen in einem anspruchsvollen Musikstück gibt es Arten von Barrieren, die nur schwer zu erkennen und damit noch schwieriger zu beseitigen sind.

Harmonie und Missklang

Nur wer den Dialog mit den Zielgruppen sucht und eine genaue Bedarfserhebung durchführt, kann sicher sein, diese Bedürfnisse auch abdecken zu können. Verzichtet man auf diesen Dialog und beschränkt sich auf das bloße Studim der Partitur nur unzureichend, sind Misstöne im Zusammenspiel unvermeidbar.

Darum sah sich vielleicht so mancher engagierte Initiator am Ende des abgelaufenen Jahres mit der bitteren Erkenntnis konfrontiert, dass sein Bemühen, auch etwas zum Jahr der Menschen mit Behinderungen beizutragen, wohl gut gemeint war, von den Betroffenen aber nicht uneingeschränkt als gut beurteilt wird. Folglich wird die mangelnde Akzeptanz so mancher Zwangsbeglückung als grober Undank empfunden und löst Enttäuschung und Frustration aus.

Ein Hauptmotiv des vergangenen Jahres war sicher das Bestreben, bei allen Bevölkerungsschichten, von der hohen Politik bis zum sprichwörtlichen "Mann von der Straße" mehr Bewusstsein für die Anliegen behinderter Menschen zu schaffen und zu festigen. Es ist durchaus legitim, sich nach Ablauf des Jahres die Frage zu stellen, inwieweit dieses Ziel auch erreicht wurde.

Eines der jüngsten Beispiele lässt den Verdacht aufkommen, dass man zumindest in manchen Bereichen in diesem Bestreben nicht sehr weit gekommen ist. So traten durch die veränderte Gesetzeslage zahlreiche Lehrer unserer Pflichtschulen in den vorzeitigen Ruhestand, was einen eklatanten Lehrermangel hervorrief. Und woher kam der Ersatz: Man hat Stützlehrer für behinderte Kinder abberufen, um die entstandenen personellen Löcher zu stopfen.

Wenn aber die Schwächsten in unserem Bildungssystem keine echte Chance bekommen, später ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, Steuern zu entrichten und so für ihre eigene Pension vorzusorgen, fragt man sich unwillkürlich, ob nicht Gleichstellung, sondern Fürsorge die neue Tonart der Zukunft sein könnte.

Auch der Umstand, dass in die Wiener Bauordnung trotz mehrfacher Reklamation durch Interessensvertretungen die Anliegen sinnesbehinderter Menschen nicht aufgenommen wurden, ist Dissonanz und nicht Harmonie. Es bleibt nur zu hoffen, dass künftig nicht gerade diese Beispiele im Orchester die erste Geige spielen werden.

Glücklicherweise gibt es auch viele positive Beispiele, die zeigen, dass die Musiker nicht nur ihre Partitur gründlich studiert haben, sondern bei der Umsetzung ihrer Vorhaben, gemeinsam mit den anderen neben sozialem Engagement auch mit unsentimentaler Kompetenz ans Werk gegangen sind.

Zahlreiche Projekte beweisen, dass auch erfolgreich daran gearbeitet wird, die gefährlichsten Barrieren abzubauen, nämlich Unwissenheit und Vorurteil. Diese sind darum so tückisch, weil es sich um mentale und psychische Barrieren handelt, die unsichtbar und daher schwerer erkennbar sind.

Umso ermutigender ist es, wenn man, so wie ich, als Betroffene schon zu Beginn einer geplanten Aktion an den Besprechungstisch gebeten wird. Als eines der vielen positiven Beispiele möchte ich die Zusammenarbeit mit dem Presse- und Informationsdienst der Stadt Wien erwähnen, der es sich zum Ziel gesetzt hat, den Internetauftritt www.wien.at für alle Bürger und Bürgerinnen möglichst gut zugänglich zu gestalten - keine ganz leichte Aufgabe angesichts der über 20.000 (inzwischen fast 50.000) Seiten.

Von Beginn an - und der Startschuss zu diesem Vorhaben fiel lange vor dem Jahr 2003 - wählte man den Dialog und nicht die Bevormundung, betrachtete man das eigene Bemühen als Notwendigkeit und nicht als "gute Tat". Neben der Beispielwirkung gelebter Gleichstellung hat diese Herangehensweise einen weiteren positiven Aspekt: Durch das gemeinsame Herausarbeiten von bestehenden Barrieren und Erarbeitung von Lösungsansätzen entsteht auf beiden Seiten Verständnis und Toleranz für die Situation des jeweils Anderen.

Generalprobe und Premiere

Zurück zum Jahr 2003 und dessen Ergebnisse: Genau wie in einem Orchester einzelne falsche Töne die Harmonie empfindlich stören, während man in einem grundsätzlich unharmonischen Zusammenspiel einzelne Virtuosen nur schlecht heraushört, so könnte man am Ende dieses Jahres den Eindruck gewinnen, dass der Erfolg zu wünschen übrig lässt. In Wahrheit aber ist trotz einzelner Aktionen, die man durchaus als misslungen bezeichnen darf, ein neues Bewusstsein und ein entspannterer Umgang mit dem Thema Behinderung und dessen Begleitumständen zu bemerken.

Erfreulich ist zudem, dass alle eventuellen Alibiaktionen im nächsten Jahr ganz von selbst von der Bildfläche verschwinden werden, wird es doch bloßen Trittbrettfahrern künftig an der erforderlichen medialen Plattform für ausreichende Selbstdarstellung mangeln.

Das aber wiederum wird uns die Möglichkeit bieten, uns auf jene Aktivitäten zu konzentrieren, die nicht ausschließlich auf das Jahr der Menschen mit Behinderungen oder Publicity ausgerichtet waren, sondern auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit bei der Beseitigung von Barrieren aller Art.

Aus diesem Blickwinkel könnte das Jahr 2003 nicht nur eine schwierige Orchesterprobe gewesen sein, sondern vielleicht die Ouvertüre zu dem Werk der Gleichstellung aller Mitglieder unserer Gesellschaft. Aber nur, wenn alle Mitspieler das nötige Engagement aufbringen, kann das schwierige Werk der Gleichstellung auch zur Aufführung gelangen.

Da Österreich bekanntermaßen eine Musikernation ist, dauern möglicherweise aber die Proben etwas länger als anderswo. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es also verfrüht, am Zustandekommen eines Behinderten-Gleichstellungsgesetzes zu zweifeln.

Die Zukunft hat begonnen

Am 1. Jänner 2006 trat das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz in Kraft. Der Gesetzgeber hat also seinen Dirigentenstab erhoben und das Publikum wartet mit Spannung auf ein gelungenes Zusammenspiel.

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