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(M)ein Souffleur für neue Bilder im Kopf.

Rendezvous mit Greta

07.02.2014

Zu den (4) Kommentaren

Endlich ist Greta da, nachdem sie bereits Anfang Dezember angekündigt worden war.

Greta, so heißt die neue App für Smartphones, die blinden und sehbehinderten Menschen durch eine zusätzliche akustische Filmbeschreibung ein ganz neues Kinoerlebnis bietet. Vorbei ist das ungeduldige Warten auf die ersten Worte nach einer endlos scheinenden stummen Szene, vorbei auch die Ungewissheit, was sich denn in einer Action-Szene mit einer Kakofonie an Geräuschen an Handlung tut; und vorbei ist auch das Geflüster mit meinem Sitznachbarn, wenn ich es gar nicht mehr aushalten kann und unbedingt wissen muss, was da gerade passiert. Greta füllt die Lücken der Unwissenheit und erzählt, was ich wissen muss, um der Handlung des Films folgen zu können.

Aber sie tut noch viel mehr: Da werden Orte und Personen beschrieben, Mimik und Gestik erklärt und die Szenerie beschrieben: der blaue Himmel, die Türme von Isfahan in der Ferne, die dunklen Gestalten ... eben das, was nur das Auge wahrnehmen kann und dem blinden Publikum verborgen bleiben muss.

Diese Filmbeschreibung ist eine eigene Tonspur, die aber das filmische Geschehen nicht überlagert, sondern Dialogpausen, Musikbrücken oder Geräusche ohne hörbare Handlung nutzt, um die wichtigsten Informationen so kurz und prägnant wie möglich zu vermitteln. Oft bleiben nur wenige Sekunden oder gar nur Bruchteile davon, um eine Bemerkung oder ein einzelnes Wort der Erklärung einzufügen. Schließlich soll der Zuhörer nicht vom Film abgelenkt und schon gar nicht zugelabert werden.

Und so funktioniert Greta

Die App wird auf das Smartphone geladen. Öffnet man diese, erfährt man, für welche Filme eine Filmbeschreibung (Audiodeskription) vorhanden ist. Nun heißt es das Kinoprogramm zu Rate zu ziehen, um zu erfahren, wo einer der angebotenen Filme gespielt wird. Danach lädt man sich die Filmbeschreibung auf das Smartphone und ist jetzt bestens für den Kinobesuch gerüstet.

Für den Anfang ist die Auswahl nicht sehr groß, nur drei Filme werden derzeit angeboten. Die Wahl fällt auf den Film "Der Medicus". Das Buch habe ich vor vielen Jahren gelesen, übrigens auch die beiden Fortsetzungen "Der Schamane" und "Die Erben des Medicus". An Handlungsdetails kann ich mich heute nicht mehr erinnern, aber die Geschichte hat mir damals gefallen.

Im "Startloch"

Im Foyer des Kinos steht ein kleines Grüppchen blinder Menschen herum, denn schließlich möchte man sich hinterher über den Film und erst recht über das neue Filmerlebnis austauschen. Die Akkus unserer Smartphones sind aufgeladen und wir tauschen uns noch darüber aus, wer welche Art von Kopfhörer benutzt. Dann machen wir es es uns auf den breiten Sitzen bequem (hätte nur das Konzerthaus, das ich viel öfter besuche, nur ähnlich bequeme Sitzgelegenheiten!), aktivieren den Flugmodus, starten die App Greta, regeln die Lautstärke im Kopfhörer und dann kann's losgehen.

Der "Lauschangriff"

Greta spricht nicht nur, die App muss auch gut "zuhören". Dazu wird das Mikrofon des Smartphones verwendet. Sobald die Filmmusik ertönt, wird die gesprochene Filmbeschreibung mit dem Originalton des Films synchronisiert - so steht es in der Beschreibung. Der Film dauert 150 Minuten, daher gibt es Kinos, die eine Pause einlegen. In diesem Fall kann man den "Pause"-Knopf betätigen und nach der Pause wieder auf "synchronisieren" tippen.

Wie üblich, gibt es im Vorspann mehrere Trailer, um für andere Filme zu werben. Hier fällt schon auf, was einem entgeht, wenn man nicht sehen kann: Ich habe keine Ahnung, wie die Filme heißen, die uns da vorgestellt werden.

Und dann ist es so weit. Das muss die Filmmusik sein. Also rasch auf "synchronisieren" drücken und abwarten. Ein paar bange Sekunden vergehen. wird es klappen?

Erst als in meinem Kopfhörer eine angenehme männliche Stimme zu hören ist, die die Mitwirkenden vorliest, lehne ich mich entspannt zurück und tauche ein in eine Welt von vor mehr als 1000 Jahren.

Sie sollten das übrigens auch tun - ob nun mit oder ohne Greta.

Reflexion

Es war ein herrlicher Filmgenuss, über alles Wesentliche informiert zu sein. Wie gut die Informationsübermittlung funktioniert, wurde mir bewusst, als mich mein sehender Sitznachbar fragte, was denn genau Rob Cole bei der Leichenöffnung an Innereien entnommen hatte. Stolz konnte ich berichten, dass es sich um den Wurmfortsatz des Blinddarms handelte - eine Passage im Film, bei der ich übrigens sehr dankbar war, die dazugehörigen Bilder nicht sehen zu müssen.

Mein Nachbar war mit einem Android-Gerät ausgestattet und hatte zu Beginn versuchsweise auch die Audiodeskription angehört, mir aber auf meine Frage erklärt, dass er die zusätzliche Tonspur als Überreizung der Sinne und teilweise als Verdoppelung des Gesehenen empfunden und daher die App geschlossen hatte.

Eine nette kleine Panne

Beim Filmende hatte ich den Kopfhörer abgesteckt, um die Bildschirmsperre hatte ich mich nicht gekümmert; die wird nach 4 Minuten automatisch aktiv. Als ich am nächsten Morgen eine leise Stimme aus meiner Tasche sprechen hörte, war ich einigermaßen irritiert, zumal der Flugmodus noch aktiv war. Die Filmbeschreibung lief also die ganze Nacht durch. Dieses kleine Versehen hat mich um zwei Erfahrungen reicher gemacht: Zum einen tauchte bei kurzem Hineinhören in die Filmbeschreibung sofort in meinem Kopf die zugehörige Szene auf, zum anderen konnte ich feststellen, dass der Akku von anfänglich 97 % innerhalb von elf Stunden nur auf 66 % gesunken war.

Blick in die Zukunft

Ich habe Blut geleckt. Nein, nicht bei den diversen gelegentlich schockierenden medizinischen Behandlungen, sondern durch die neuerliche Erschließung eines mir fremd gewordenen Mediums: Ich hatte mit ganz wenigen Ausnahmen meine Kinobesuche eingestellt, als ich die Bilder nicht mehr deutlich genug sehen konnte. Mit Greta wurde mir nun dieses Medium wieder neu erschlossen.

Umso bedauerlicher, dass für Greta derzeit nur drei Filme angeboten werden, von denen zwei vermutlich bald nicht mehr ausgestrahlt werden dürften. Da stellt sich wohl die Frage, wie ein Einzelunternehmen für entsprechenden Nachschub sorgen kann, zumal von einer "großen Auswahl" an Filmen auf der Webseite die Rede ist. Das Konzept, Filmbeschreibungen aus dem Internet zu laden und in einem Kino eigener Wahl auf irgendeinem Smartphone nutzen zu können, hat meines Erachtens durchaus Potenzial. Jedenfalls scheint es mir ziemlich illusorisch, dass flächendeckend in Kinos die benötigte Technik zur Verfügung steht und auch funktioniert. Immerhin habe ich eine derartige Panne bei meinem allerersten Besuch eines Films mit Audiodeskription selbst erlebt.

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4 Kommentare

  1. Jan Eric Hellbusch schrieb am Freitag, 07.02.14 19:31 Uhr:

    Danke für die tolle Erlebnisbeschreibung. Das klingt wirklich wunderbar. Ich frage mich, wer die Audiodeskriptionen bereitstellt und ob es Aussicht auf (sehr viel) mehr Audiodeskription im Kino gibt. Das wäre ein Grund für mich, ein neues Telefon zu kaufen!

  2. Michael schrieb am Sonntag, 09.02.14 12:22 Uhr:

    Greta ist sicherlich eine tolle Idee, aber meiner Meinung nach steht und fällt es mit der Auswahl an Audiodesktiptionen. Die Homepage verspricht das Blaue vom Himmel herunter, aber nach einem Monat Betrieb sind es immer noch drei Filme und das wars. Ist zwar kein wirkliches Problem, da die App kostenlos ist, aber wenn der Hersteller seinen eigenen Hype nicht ad absurdum führen will, dann muss da bald etwas passieren. Hoffen wir also mal, das da bald etwas mehr Dynanik rein kommt.

  3. Eva schrieb am Sonntag, 09.02.14 15:45 Uhr:

    Ich gebe zu bedenken, wie lange es gedauert hat, bis vor ca. 25 Jahren das Thema Audiodeskription überhaupt Beachtung fand. Ob nun die Schiene Greta das Non plus Ultra ist oder nur ein Strohfeuer, wie manche glauben - wir sollten vorerst jeder aktivität in diese Richtung eine Chance geben. Nie und nimmer glaube ich daran, dass ALLE Kinos irgendwann flächendeckend Audiodeskription anbieten können oder wollen. Warum also nicht zwei- oder mehrgleisig fahren? warum nicht alle Aktivitäten in diese Richtung einerseits annehmen und andererseits auch unterstützen? Nicht alle Forschungsprojekte führen immer zu fertigen Produkten, viele Entwicklungen aber sind wegweisend für die nächste Generation.

  4. Andrea Eberl schrieb am Dienstag, 11.02.14 05:23 Uhr:

    Super geschrieben! Ich habe Greta noch nicht ausprobiert. Ich denke aber auch, dass sich das Eichhörnchen zwar mühsam nährt, aber immerhin tut es das. Also verfolgen wir das Thema interessiert weiter.

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