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Gebloggt

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Die Erinnerung selbst an bitterkalte Wintertage kann innerlich wärmen.

Schnee

03.12.2010

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Ich genieße die Vorteile der Großstadt, also muss ich auch deren Nachteile in Kauf nehmen. Von Tag zu Tag wird es für mich schwieriger, mir mit meinem Langstock einen Weg durch die zahlreichen Schneewälle zu bahnen, die scheinbar überall dort aufgetürmt sind, wo ich hin möchte.

Wenn ich dann endlich in der (hoffentlich) geheizten Straßenbahn sitze, erinnere ich mich als Entschädigung für die eben überstandenen Mühen gerne an angenehme Schnee-Erlebnisse.

Es ist schon mehr als 25 Jahre her. Mein Vater hatte gerade seinen ersten leichten Herzinfarkt glücklich überstanden, kämpfte aber aufgrund seiner angina Pectoris bei jeder Anstrengung um genügend Luft.

Wir saßen gemütlich im Wohnzimmer. Mein Vater schaute aus dem Fenster. Es hatte tagelang geschneit, jetzt aber strahlte die Sonne von einem winterlich blauen Himmel. Ein Bild wie aus einem Märchenbuch.

"Eigentlich müsste im Keller noch die alte Rodel sein, die du als Kind benutzt hast", sinnierte mein Vater vor sich hin. Ich dachte zuerst, ich hätte mich verhört, aber als er aufstand und in den Keller ging, war mir klar, dass er es ernst meinte.

Ich folgte ihm und tatsächlich fand er die alte Rodel mit der schon etwas mitgenommenen Leinenbespannung. "Komm, wir gehen rodeln", war alles, was mein Vater sagte und schlüpfte bereits in seine Stiefel. Ich versuchte ihn von seinem Vorhaben abzubringen, aber alle Argumente seine Atemnot betreffend, wischte er nur mit einer ungeduldigen Handbewegung zur Seite. Also zog ich mich warm an, denn erstens wollte ich meinen Vater auf keinen Fall alleine weggehen lassen und zweitens hatte auch ich plötzlich Lust zu rodeln.

Wir stapften den Berg hinauf, legten mehrmals eine kurze Rast ein, und mein Vater brachte die Rodel in Position. Als wir Platz nahmen, wurde uns schnell klar, dass sie für zwei Erwachsene etwas eng war, aber das war unser geringstes Problem, denn in unserem kindlichen Eifer hatten wir vergessen, das in die Jahre gekommene wackelige Ding auf seine Gleitfähigkeit zu überprüfen. Wir mussten kräftig schieben, um überhaupt den Berg hinunter zu kommen, und erst im unteren Drittel des Hangs ging es schneller voran.

"5 Minuten 20!" Mein Vater war entrüstet, ja beinahe verärgert, und machte sich bereits wieder an den Aufstieg, all meinen Warnungen zum Trotz.

Die 2. Fahrt verlief schon etwas flüssiger, aber mit den etwas über 3 Minuten war mein Vater noch immer nicht zufrieden. Also nahmen wir den Aufstieg ein drittes Mal in Angriff, mussten immer häufiger Pausen einlegen, aber ich hatte es längst aufgegeben Vernunft zu predigen. Zum einen hätte es nichts genützt, zum anderen hatten wir beide so viel Spaß, dass wir alle Vernunft in den Wind schlugen.

Als wir dann auf der unter den Strapazen gewaltig ächzenden Rodel endlich in beachtlichem Tempo den Berg hinuntersausten und ich links schemenhaft den Wald vorbeifliegen sah, beschlich mich ein mulmiges Gefühl: Wir waren für meine Geschmack zu schnell unterwegs. Denn am Ende unserer Fahrt mussten wir entweder scharf nach rechts oder links abbiegen. Geradeaus ging es nämlich über einen Steilhang in den Bach.

Bevor ich noch meine Bedenken äußern konnte, gab mein Vater den Befehl zu bremsen - keine leichte Aufgabe, denn wir waren inzwischen recht flott unterwegs und schafften die scharfe Rechtskurve mit vereinten Kräften gerade noch rechtzeitig.

"Nicht schlecht", kommentierte mein Vater, "nur knapp über eine Minute." Keine Ahnung, woher er die Nerven nahm, auch noch auf die zeit zu achten.

Den Rest des Tages verbrachte er sichtlich zufrieden vor dem Fernseher; die Strapazen hatten ihm offenbar nicht geschadet. Es war die letzte Rodelfahrt meines Vaters - und vorerst auch die meine.

Ganz versunken in meine Erinnerungen hätte ich beinahe vergessen aus der Straßenbahn auszusteigen.

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